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Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Vier Arten, die Liebe zu vergessen

Titel: Vier Arten, die Liebe zu vergessen
Autoren: Thommie Bayer
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ausdruckslos das (natürlich ebenfalls scheußliche) Buntglasfenster an
der Kapellenwand fixierte, nur Wagner hatte den Kopf in den Händen, die
Ellbogen auf den Knien und beugte sich interessiert und offenbar einverstanden
mit den Textbausteinen des Redners nach vorn.
    Bernd sah her und nickte. Michael nickte zurück und gab sich den
weiteren Worten des Pfarrers hin. Wenigstens kam er jetzt auf Emmi Buchleitner,
die Verstorbene, erzählte von ihrer Kindheit als adoptiertes Flüchtlingskind
auf einem Bauernhof, ihrem zähen Willen, etwas aus ihrem Leben zu machen, ihrem
segensreichen Wirken als Lehrerin am hiesigen Internat, den Fächern Englisch,
Französisch und Musik, die sie erfüllt habe mit ihrer Leidenschaft und Güte –
das stimmte immerhin: Sie war eine mitreißende Lehrerin gewesen, und nicht nur
Michael, Thomas, Bernd und Wagner hatten sie geliebt.
    Jetzt ging es noch um ihre Zeit als Chorleiterin hier in der Stadt,
ihr ehrenamtliches Engagement und die Freundschaften, die sie bis zuletzt
gepflegt habe und die ihr Halt und Stütze in manch schwerer Stunde gewesen
seien – es driftete wieder ab ins Beliebige, und endlich kam auch Gott ins
Spiel, der sie nun im Alter von sechsundsiebzig Jahren zu sich gerufen habe und
sich ihrer annehme, wie er sich aller annehme, die ihr Leben in seine Hände
legten etc.
    Mit Gott hatte sie zu unserer Zeit nichts am Hut, dachte Michael,
der war ihr herzlich egal. An der Musik lag ihr mehr. Und an uns. Ihren
Nachtigallen. Von denen sie zum letzten Mal vor zwanzig Jahren besucht worden
war, nach einem Klassentreffen, an dem Emmi wegen eines gebrochenen
Oberschenkels nicht hatte teilnehmen können.
    Der Pfarrer schlug sein Buch zu, und in den letzten Reihen entstand
Bewegung. Michael hatte sich noch nicht ganz umgedreht, da sang schon ein Chor – ziemlich gut – das Ave-Maria von Bach-Gounod. Er
sah nicht zu Thomas, Bernd und Wagner hin. Falls sie ungerührt von der Musik
blieben, wollte er das nicht wissen.
    ~
    Am Grab, nachdem der Pfarrer ein Gebet gesprochen hatte,
zog Angela die kleine Schaufel aus dem Erdhügel, in dem sie steckte, warf damit
ein wenig Erde auf den Sarg und reichte die Schaufel an Michael weiter, obwohl
sie damit den Chor und einige andere Leute überging, die näher am Grab standen
und eher an der Reihe gewesen wären. In Angelas Augen stand etwas wie Trotz und
auch etwas wie Zuneigung, es war, als wollte sie sagen, euch hat sie mehr
geliebt, ihr seid als Nächste dran. Michael nahm die Schaufel aus ihrer Hand, warf
Erde ins Grab und gab an Thomas weiter. Der gab an Wagner weiter und dieser an
Bernd. Erst dann kam der Rest der Trauergemeinde an die Reihe. Es war ein
seltsamer Augenblick: Sie gehörten auf einmal wieder zusammen.
    Ohne sich verständigt zu haben, blieben sie stehen, als die anderen
Trauergäste sich nach den Beileidsbekundungen auf den Weg zum Ausgang machten.
Es war Bernd, der leise sagte: »The parting glass, oder?«
    Die anderen nickten nur, und Thomas gab wie früher den Ton vor. Er
summte ein A, ein Fis und ein D und zählte ein. Es klang nicht so wie damals,
aber doch erstaunlich sicher, so sicher, dass Emmi es zu schätzen gewusst
hätte, als sie sangen: Oh, all the money ever I had, I spent
it in good company, and all the harm that ever I’ve done, alas, it was to none
but me …
    Michael spürte eine Gänsehaut und musste sich beherrschen, um die
aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und seiner Stimme kein Schwanken zu
erlauben. Sie sangen alle drei Strophen, die Augen stur aufs Grab gerichtet,
und Michael fühlte sich zum ersten Mal an diesem Tag Emmi wirklich nahe. Es tat
ihm leid, dass sie nicht mehr leben durfte, es tat ihm leid, dass er nie mehr
hier gewesen war, es tat ihm leid, dass ihre Nachtigallen seit vielen Jahren
nichts mehr miteinander zu tun hatten, dass sie sang- und klanglos
weiterlebten, als wären sie nicht durch etwas verbunden gewesen, das sie Emmi
verdankten und ihr zu Ehren hätten festhalten müssen. Das Lied klang mit jedem
Vers besser.
    Nach dem letzten Ton blieben sie einen Moment stehen, und sie waren
nicht mehr vier Fremde wie noch wenige Minuten zuvor, sondern eine Einheit wie
damals, und erst als sie spürten, dass langsam wieder ein Blatt Papier zwischen
sie passen würde, wandten sie sich zum Gehen.
    Da stand die gesamte Trauergemeinde. Alle waren noch einmal
zurückgekommen. Leise, so
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