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Ein Killer für Rockford

Ein Killer für Rockford

Titel: Ein Killer für Rockford
Autoren: Mike Jahn
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    Alte Trinker tragen immer Mäntel, sogar an heißen Sommertagen. Es war ein heißer Julimorgen, und Harry Butler, ein alter Trinker, trug einen Mantel. Unter dessen mürbem und zerfasertem Stoff hatte er ein Oberhemd an, das früher einmal blau gewesen sein mochte, und ein gelbes Unterhemd, das in besseren Tagen weiß war. Seine Hosen waren von grüner Farbe und ziemlich ausgebeult. Zusammengehalten wurden sie von einer Hanfschnur, die er von einer Verpackungskiste geklaut und hastig zu einem Gürtel zusammengebunden hatte.
    Der Bus, mit dem er fuhr, war nicht ganz so alt, wie er aussah. Die Verkehrsbehörde der Stadtverwaltung von Los Angeles hatte es offenbar aufgegeben, sich um seine Federung, seine ausgeleierten Stoßdämpfer und die abblätternde rote Farbe zu kümmern. Man gab sich damit zufrieden, daß er für die restlichen, ihm noch verbleibenden Jahre ältere Leute die Western Avenue von Hawthorne nach San Pedro hinunterschaukelte. Dort, auf den Bänken des Point Fermin Parks, verbrachten sie ihre Tage, spielten Schach oder starrten hinaus auf den Pazifischen Ozean.
    Harry Butler hatte keineswegs die Absicht, auf den Ozean hinauszublicken, und schon gar keine Lust zum Schachspielen. Er hatte noch nicht einmal vor, den Bus zu verlassen. Er tat einfach das, was er seit einiger Zeit jeden ersten Montag des Monats tat - er hielt eine Verabredung ein. Der alte Bus ratterte wie eine Blechdose in einem Hagelschauer, während er die Western Avenue zur See hinunterfuhr. Er passierte die Ölraffinerie zwischen der Hundertneunzigsten Straße und Torrance, überquerte den Sepulveda Boulevard und schnaufte durch die nüchtern und zweckmäßig gebauten Viertel von Lomita und Harbor City, wobei er gelegentlich einen Fahrgast am Wege auflas. Als der Bus immer weiter fuhr, begann Harry Butler nervös zu werden.
    Er beugte sich vor, blinzelte durch die Vorderscheibe des Busses und suchte jede Haltestelle nach einem vertrauten Gesicht ab. Es tauchte nicht auf. Und um die Zeit, als der Bus den 1900. Block der Western Avenue in der Nähe von Franklin passierte, wurde Harry Butler sichtlich aufgeregt.
    Er beugte sich auf seinem Sitz noch weiter vor und nahm sogar die Gefahr in Kauf, das Gleichgewicht zu verlieren und auf sein Gesicht zu fallen. Er streckte seine runzlige, fleckige Hand aus und berührte das Knie eines fetten, schwarzen Mannes, der auf der anderen Seite des Ganges vor sich hindöste.
    Der Mann grunzte, hob eine Augenbraue und starrte auf Butler, ohne seine zusammengesunkene Stellung auch nur um einen Zentimer zu verändern.
    »Was wollen Sie?« knurrte der Mann.
    »Wie spät ist es?« fragte Butler.
    Mit einiger Anstrengung schob der Mann seinen Ärmel hoch und blickte auf seine Uhr.
    »Zehn nach zwei«, sagte er. »Und in zehn Minuten ist es zwanzig nach zwei, und zehn Minuten später ist es halb drei. Sie brauchen mich also in den nächsten zwanzig Minuten nicht mehr zu fragen. Dann steige ich sowieso aus.«
    »Danke schön«, sagte Harry Butler ein wenig betrunken und mit übertriebener Höflichkeit. Der schwarze Mann schüttelte angewidert den Kopf und sank wieder in leichten Schlaf.
    Harry Butler konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die wenigen noch verbleibenden Haltestellen. Der Bus wand sich durch ein paar enge Kurven, als er sich dem militärischen Sperrgebiet von Fort MacArthur näherte. Als der alte Bus nach links in den Paseo del Mar abbog, fuhr ein dunkelblauer Jensen aus einer Nebenstraße, die zum Royal Palms State Park führte, und folgte ihm.
    Jerry Grimes, der den Jensen fuhr, lernte zur Zeit Französisch. Daß es ausgerechnet Französisch war, bedeutete an sich wenig. Es hätte genausogut Russisch oder Deutsch oder Chinesisch sein können oder ein Schachlehrgang. Was Jerry Grimes wollte, war etwas, womit er auf Cocktailpartys angeben konnte, etwas außer Muskelpaketen, über die er in reichem Maße verfügte.
    Grimes war sehr muskulös und hübsch, mit einem fast klassisch-griechischen Profil. Er war geübt in kriegerischen Künsten und hätte eigentlich ein begehrter und umschwärmter Mann sein müssen. Aber Jerry Grimes war das Opfer eines Vorurteils, das darin bestand, daß die Leute in gebildeten Kreisen, in die er sich Eingang zu verschaffen versuchte, ihn ständig für einen Idioten hielten. Sie warfen nur einen Blick auf seine Muskelpakete und hielten es für selbstverständlich, daß jemand, der seinem Bizeps soviel Zeit widmete, nichts als schweißgetränkte Socken im
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