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Versteckt wie Anne Frank

Versteckt wie Anne Frank

Titel: Versteckt wie Anne Frank
Autoren: Marcel Prins , Peter Henk Steenhuis
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allem, weil Tante Marie schwanger wurde. Sie bekam Hungerödeme, ganz dicke Beine, auf denen sie kaum noch stehen konnte. Seit diesem Tag stand ich jeden Morgen um halb fünf in der Früh beim Bäcker in der Schlange und hoffte, noch ein Brötchen auf Lebensmittelkarte zu bekommen. Da ich mir vorgenommen hatte, für Tante Marie zu sorgen, entwickelte ich mich zu einer kleinen Gaunerin, die an der Kaserne um Kohlen bettelte. Und auf dem Markt, wo die Bauern ab und zu noch ein paar Möhren, Kartoffeln und Zuckerrüben verkauften, klaute ich, was immer ich klauen konnte.
    Obwohl mir seit dem Verschwinden von Danny sehr klar war, dass seltsame Dinge geschehen konnten, wenn man Jude war, wusste ich nichts über das religiöse Judentum. Davon erzählten mir Onkel Kees und Tante Marie auch nichts. Ich wurde evangelisch-reformiert erzogen. Sonntags in die Kirche zu gehen, fand ich großartig, denn dort wurde schön gesungen: »Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir« – ich wusste nicht, was ich da sang, aber es klang wunderbar.
    Ich freundete mich mit einem katholischen Mädchen an. Eines Tages fragte sie, ob ich mal mit ihr zur Kirche gehen würde. Ja sicher, warum nicht? So eine katholische Kirche mit Heiligenfiguren, Bildern, Rosenkränzen, das war etwas ganz anderes als die kahle evangelische Kirche. Meine Freundin brachte mir bei, wie man das »Ave Maria« aufsagte, auch auf Latein. Ich war im siebten Himmel, der katholische Glaube gefiel mir viel besser als der evangelische, es wurde auch viel mehr gesungen. Ich habe Onkel Kees und Tante Marie gefragt, weshalb wir nicht in die katholische Kirche gingen. Sie gaben mir keine überzeugende Antwort. Sie haben nie versucht, mir ihren Glauben aufzudrängen.
    Jeden Abend sagte ich mein Gebet für Jesus im Himmel auf, denn ich dachte: Da oben sitzt jemand, der mich im Auge behält, und wenn ich Gutes tue, tut er auch etwas für mich.
    Nach der Befreiung war es schlagartig vorbei mit meinem Glauben. Am 7. Mai 1945 gab es in Amsterdam ein riesiges Fest. Alle gingen auf die Straße, wir auch. Tante Marie mit ihrem dicken Bauch, Wim im Kinderwagen – und ich hüpfte nebenher. Tanzend und jubelnd machten wir uns auf den Weg zum Dam. Es waren noch Deutsche dort, und sie eröffneten vom Balkon eines hohen Gebäudes das Feuer auf die Menge. Schnell suchten wir Schutz hinter dem Palast. Trotzdem war es ein wunderbarer Tag, und als wir am Abend wieder am Kwakersplein ankamen, sagte Tante Marie: »Tja, Rietepiet, jetzt werden deine Eltern bald kommen. Der Krieg ist vorbei, bestimmt dauert es nicht mehr lange.«
    Das wird doch wohl nicht passieren, dachte ich. Das darf einfach nicht sein! Ich will hier nie mehr weg! Zu meinen Eltern hatte ich keinen Bezug. Es gibt nur einen, dachte ich, der die Macht und die Kraft hat, dafür zu sorgen, dass ich bei der Familie Fonds bleiben kann: der liebe Herrgott. Abends lag ich ewig auf den Knien und betete, dass meine Eltern mich bei Tante Marie und Onkel Kees lassen würden.
    Eins stand für mich fest: Solange Tante Marie schwanger war, konnte ich sie nicht im Stich lassen. Ich sorgte für sie, und sie war von mir abhängig. Aber ich ging auch fest davon aus, dass es noch eine Weile dauern würde, bis meine Eltern zurückkämen.
    Das war ein Irrtum. Mitte Mai klingelte es. Ich spielte mit Wim auf dem Balkon, als ich hörte, wie Onkel Kees die Tür aufzog und rief: »Ach, Beb, Frits, dass ihr jetzt schon da seid!« Mir war sofort klar, wer dort war, und ich setzte mich mit dem Rücken zur Balkontür. Da rief Tante Marie: »Rietepiet, sieh nur, wer hier ist!« Als ich sie nach oben kommen hörte, drehte ich mich um und sagte ganz höflich: »Guten Tag.« Das war alles, ich spielte weiter.
    Onkel Kees hat mir viel später erzählt, wie er meinen Vater angefleht hat: »Nimm sie nicht von einem Tag auf den anderen mit, lass sie hier. Nimm sie erst einen Tag mit in den Zoo, lass sie dann eine Nacht bei euch bleiben.« Aber das kam gar nicht infrage.
    Ich sagte noch, ich wollte für Tante Marie sorgen, bis das Baby da sei. Nichts half, ich wurde mitgenommen. An den Abschied erinnere ich mich nicht.
    Nach diesem Ereignis verlor ich meinen Glauben. Wenn der liebe Herrgott in einem solchen Moment nicht eingriff, war er für mich gestorben. Noch zwei Tage versuchte ich vor dem Essen »Herr, segne diese Speisen, Amen« zu sagen. Meine Eltern wiesen mich zurecht: »Das machen wir nicht.« Dann eben nicht, dachte
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