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Versteckt wie Anne Frank

Versteckt wie Anne Frank

Titel: Versteckt wie Anne Frank
Autoren: Marcel Prins , Peter Henk Steenhuis
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dass ich begriff, was es bedeutete.
    Bei uns zu Hause waren wir vor dem Krieg alles Mögliche gewesen: Vegetarier und Anhänger allerlei Naturheilverfahren zum Beispiel, und wir waren nicht gläubig. Natürlich gab es Traditionen. Sogar jede Menge: Wir aßen zu Ostern Matzen, meine Mutter backte Gremselich (Gebäck aus Matzen, Rosinen, Mandeln, Sukkade) und wir hatten eine Menora, einen Leuchter, in den wir Kerzen stellten. Vor allem meine Mutter benutzte noch viele jiddische Ausdrücke. Aber das gehörte einfach dazu, für mich war das ganz normal.
    Nicht normal war, dass ich ungefähr drei Monate nach Kriegsbeginn nicht mehr in den Kindergarten durfte. Aber nun ja, mein Nachbarsjunge Sjeetje war auch jüdisch und ihm passierte das Gleiche. Also spielten wir eben wieder zusammen, wie wir es auch getan hatten, ehe wir in den Kindergarten gekommen waren.
    Als ich untertauchte, war ich fünf, und es würde noch Monate dauern, bis ich sechs würde. Aber ich freute mich schon darauf. Was es bedeutete, Jude zu sein, wurde mir erst an dem Tag ein wenig klarer, an dem meine Untertaucheltern über meinen Geburtstag sprachen.
    Mein Untertauchvater, Walter Lorjé, sagte: »Wenn du gefragt wirst, wie alt du bist, sagst du fünf. Du darfst nie sagen, dass du sechs wirst.«
    Das fand ich schrecklich: Ich wollte groß sein. »Warum denn nicht?«, fragte ich.
    »Wenn du sechs wirst«, antwortete er, »musst du einen Stern tragen.«
    Diesen Judenstern hatte man besser nicht, das wusste ich. Meine Mutter hatte auch einen Stern getragen und das war unangenehm. Ich war fünf, ich verstand noch nicht, was es bedeutete, Jude zu sein, aber dass etwas daran nicht gut war, spürte ich. Das Gefühl wurde von Woche zu Woche stärker, vor allem als die Razzien anfingen und sich die Gespräche immer öfter darum drehten, wer aufgegriffen worden war und wer nicht.
    Die Familie Lorjé, bei der ich untergetaucht war, hatte drei Kinder. Das älteste, Wim, war fünfzehn. Ab und zu spielten wir zusammen mit seinen Autos. Dann war ich ungeheuer froh. Endlich konnte ich etwas mit jemand zusammen machen! Ich spielte nicht mit anderen Kindern, sah keine Verwandten und ging nicht zur Schule. Obwohl ich sehr lernwillig war, brachte mir niemand etwas bei. Ihre Tochter Marjo jagte mir oft Todesangst ein, nicht vor den Deutschen, sondern vor Käfern, Spinnen, Schmutz, Schnelligkeit und allerlei anderen unwirklichen Gefahren. Ich traute mich nicht mehr, die Toilettenspülung zu drücken, weil ich dachte, da käme alles Mögliche heraus.
    Wenn Tante Loes kam, eine Cousine meiner Untertauchmutter, musste ich auf den Spielplatz gehen. Tante Loes war mit dem Mann verheiratet, der das Schreibwarengeschäft meiner Untertauchfamilie führte, einen Verwalter, nannte man das. Weil der Chef, Walter Lorjé, Jude war, hatten die Deutschen diesem Verwalter die Leitung seines Ladens übertragen. Tante Loes kam regelmäßig zu Besuch, um übers Geschäft zu sprechen. Sollte ich ihr zufällig begegnen, musste ich sagen, ich sei Rietje Houtman, die dort drüben wohnte, bei den Nachbarn von gegenüber – so war es vereinbart. Ich musste auf den Spielplatz gehen, bis die Luft rein war, und dann würde ich abgeholt werden.
    Dieses Mal lief es anders. Weil Tante Loes sich angekündigt hatte, brachte Marjo mich auf den Spielplatz. Bevor sie wegging, sagte sie: »Tante Loes bleibt nicht lange, du darfst um sechs Uhr nach Hause kommen.« Das hätte sie natürlich niemals sagen dürfen.
    Auf dem Spielplatz stand eine Rutsche und es gab ein Karussell, das man selbst anschieben musste. Das ging alleine nicht. Es gab auch ein paar Schaukeln und eine Wippe. Aber allein wippen konnte ich auch nicht. Da saß ich also mit meinem Eimer und meiner Schaufel im nassen Sand eines riesigen Sandkastens. Alle anderen Kinder waren um diese Zeit in der Schule.
    Trotzdem war ich nicht allein auf dem Spielplatz, der von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben war. Ein Stück weiter, in einem Häuschen neben dem Eingang, saß ein Wächter. Er saß drinnen, ich draußen.
    Nach einer Weile wurde mir kalt und ich bekam Durst. Sobald die Kirchturmuhr sechs geschlagen hatte, nahm ich Eimer und Schaufel und rannte nach Hause.
    Die Haustür war zu. Ich klingelte, woraufhin oben jemand am Seil zog und die Tür aufsprang. In der Mitte der Treppe stand Tante Loes. Sie sah mich an: »Wer bist du denn?«
    Hier stimmte etwas nicht, das wusste ich sofort. »Ich bin Rietje Houtman, ich wohne gegenüber und meine Mutter
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