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Versteckt wie Anne Frank

Versteckt wie Anne Frank

Titel: Versteckt wie Anne Frank
Autoren: Marcel Prins , Peter Henk Steenhuis
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lässt fragen, ob sie vielleicht ein wenig Zucker bekommen kann.«
    Sie drehte sich zu meinem Untertauchvater, der oben stand, um. »Also, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt denken, das hier ist Rieteke Degen.« Dann ging sie an mir vorbei aus dem Haus.
    Große Panik. Sofort wurde mein Koffer gepackt und man brachte mich zu jemandem vom Widerstand. Dort verbrachte ich die Nacht. Am nächsten Tag holte mich eine Frau ab. »Hallo«, sagte sie, »ich bin Tante Hil. Wir fahren morgen mit dem Zug nach Hengelo.« Mit dem Zug nach Hengelo. Das war schön, ich war seit Jahren nicht mehr mit dem Zug gefahren.
    »In Hengelo«, erzählte Tante Hil am nächsten Tag während der Zugfahrt, »wohnen Tante Marie und Onkel Kees, sehr liebe Leute. Sie warten schon lange auf dich, sie wollen so gern, dass du ab jetzt bei ihnen wohnst. Sie haben auch ein Baby, das noch kein Jahr alt ist.«
    Es war eine ziemlich lange Fahrt, und als wir in Hengelo ankamen, hatte Tante Hil mir alles erklärt. Ich wusste, wie Tante Marie und Onkel Kees aussahen, dass ich in einem Eckhaus mit Garten wohnen würde, und ich glaubte wirklich, dass man auf mich wartete.
    Kurz bevor wir an dem Haus ankamen, fragte Tante Hil: »Sollen wir uns einen kleinen Spaß erlauben? Du setzt dich mit deinem Koffer vorne auf den Bürgersteig und ich gehe hinten rum. Dann sage ich zu ihnen: ›Ach, ja so was! Jetzt ist Rieteke doch nicht mitgekommen.‹ Das finden sie natürlich sehr schlimm. Als Trost sage ich dann, ich hätte aber ein Päckchen mitgebracht, das vorn auf dem Bürgersteig stehe. Dann schauen sie nach, machen die Tür auf und … Überraschung!«
    Natürlich wollte ich das! Tante Hil verschwand hinters Haus.
    Eine Weile später ging die Haustür auf. Da stand eine ganz liebe Frau, das sah ich sofort. »Oh Hil!«, rief sie. »Du hast mich an der Nase herumgeführt! Rieteke, wie schön, dass du da bist! Komm schnell rein, dein Zimmer ist schon fertig. Und wie wird Onkel Kees sich freuen, wenn er nach Hause kommt!«
    Ich ahnte nicht, dass Tante Hil mich zu ihrer Schwester gebracht hatte, die erst mal über mein Kommen informiert werden musste. Und wie hätte ich es auch vermuten sollen: Das Kinderzimmer war wirklich wunderschön eingerichtet – erst lange nach dem Krieg erfuhr ich von Onkel Kees, dass das Zimmer zwar für ein Kind eingerichtet worden war, das eventuell untertauchen musste, aber nicht speziell für mich.
    Tagsüber spielte ich viel in dem großen Garten hinterm Haus und auf dem Bauernhof auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
    An dieser zweiten Untertauchadresse fühlte ich mich wirklich zu Hause, sofort. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass ich wirklich erwünscht war. Tante Hil, die noch ein paar Tage zu Besuch blieb, erzählte Onkel Kees, ich wäre ein Christkind. »Sie ist am ersten Weihnachtstag geboren.« Großartig fanden sie das. Onkel Kees zeigte auf das Baby: »Er wird eins, wenn du sieben wirst.«
    Ich geriet in Panik: Als ich sechs wurde, musste ich sagen, ich würde fünf, also musste ich jetzt, da ich sieben wurde, sagen, ich würde sechs. Ich hatte es nicht richtig begriffen und dachte, dass ich immer ein Jahr von meinem Alter runterflunkern musste, weil ich sonst auch einen Stern tragen musste.
    »Aber was hast du denn?«, fragte Onkel Kees, der die Angst in meinem Gesicht sah.
    »Das darfst du nicht sagen, du musst sagen, dass ich sechs werde.«
    »Warum?«
    »Wenn ich sage, dass ich sieben werde, muss ich einen Stern tragen.«
    »Du brauchst überhaupt keinen Stern zu tragen«, sagte Onkel Kees. »Du bist ab jetzt Rietje Fonds. Du wohnst hier bei uns im Haus. Du bist unsere Rietepiet, und unsere Rietepiet trägt überhaupt keinen Stern, denn bei uns trägt keiner einen Stern.«
    Ich gehörte jetzt zur Familie Fonds und nicht mehr zu den Sternen. Da dachte ich: Die Sterne sind verschwunden. Das fühlte sich wunderbar an. Was die Sterne wirklich bedeuteten, habe ich damals nicht begriffen.
    Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass an mir etwas Seltsames war. Ich ging zum Beispiel nicht zur Schule, sondern bekam Privatunterricht. Sie sagten mir, der Grund dafür wäre, dass ich noch nie etwas gelernt hatte und ich den Lehrstoff erst mal nachholen müsste. Ich konnte im Nu lesen und schreiben. Ich war lernbegierig. Logisch, schließlich wollte ich die Briefe meiner Eltern lesen, und ich wollte zurückschreiben. Nicht, dass ich mich groß nach ihnen gesehnt hätte, mir gefiel vor allem das Schreiben.
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