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Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Titel: Wie man leben soll: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Glavinic
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    An dem Abend, an dem drüben in Amerika die Challenger über Cape Canaveral explodiert, liegt man zum ersten Mal mit einem Mädchen im Bett. Von dem Unglück ahnt man nichts, man konzentriert sich auf unsittliche Berührungen. Aus einem Kassettenrecorder dringt Musik, von der man weiß, dass sie dem Mädchen gefällt. So ist das Objekt der Sehnsucht in der gleichen Stimmung wie man selbst. Auch wenn man das für unmöglich hält.
    Berührt man die weibliche Brust, stellt man fest, dass sie sich ähnlich anfühlt wie ein Tafelschwamm.
    – Hoppla, Entschuldigung, murmelt man.
    Claudia schweigt.
    Zweifelhafte Gazetten verbilden Jugendliche und treiben sie scharenweise den Psychoanalytikern in die Arme. Entgegen deren Informationen schätzen es Mädchen nämlich unter bestimmten Umständen, an den Geschlechtsteilen befummelt zu werden, so sehr die Kirche und der bärtige Schularzt, dessen Atem nach Marillenlikör riecht, einem das ausreden wollen. Gottlob sind Neugier und Natur stärker als alle zusammen.
    Man schließt die Augen und genießt Claudias Duft. Sie riecht blumig. So frisch, so fremd. Der Geruch eines anderen Menschen, so nah. Ein wunderbares Erlebnis. Man kann kaum glauben, dass es passiert, dass man plötzlich vom Glück verfolgt sein soll. Wenn man Karl Kolostrum heißt und immer schon der dickste der Klasse war, ist man einiges an Spitznamen und Bösartigkeiten gewohnt und in Liebesdingen alles andere als verwöhnt.
    Man liegt unbequem da. Wagt nicht, den steif gewordenen Arm unter dem Körper wegzuziehen. Man befürchtet, diese Bewegung könnte Claudia so verschrecken, dass sie sich die Sache noch einmal überlegt und Hals über Kopf zur Tür hinausstürzt. Doch das Risiko ist es wert. So bewegt man die Lippen auf jene des Mädchens zu. Dabei achtet man darauf, nicht zu hastig vorzugehen. Wenn endlich Mund auf Mund trifft, staunt man über den Eindruck, den diese Intimität erzeugt.
    Vorsichtig schiebt man die Zunge in Claudias Mund, ohne sich vom Klopfen seines Herzens irritieren zu lassen. Man bemüht sich, dass es zu keiner Kollision der Gebisse kommt. In
Das erste Mal
hat man gelesen, solches sei der Romantik des Moments abträglich und nur durch Lachen zu kompensieren. Das aber setzt ein gewisses Maß an bereits vorhandener Harmonie voraus. Und so lange ist man ja nicht zusammen. Drei Wochen, was ist das schon.
    Beflissen vermeidet man ferner, der Geliebten in den Mund zu speicheln. Jedenfalls in übertriebenem Ausmaß. Ein wenig Speichel bringt Vertrautheit, doch
dosis venenum facit
.
    Die Küsse sind lang und innig.
    In regelmäßigen Abständen donnert Mutter mit ihrem Gipsarm, den sie einem Alkoholexzess verdankt, gegen die versperrte Tür, um den Kindern keine Zeit für eine Schwängerung zu lassen. Vor Claudias Ankunft hat sie allen Ernstes behauptet, sie selbst müsse in diesem Fall für die Alimente aufkommen, da man noch unmündig sei, und daher solle man, wie sie sich ausdrückte, den Hengst im Stall lassen.
    Man reagiert nicht. In Claudias Beisein will man der eigenen Mutter unterkühlt-lässig begegnen. Dies wird der Freundin das Gefühl vermitteln, einen reifen Partner gewählt zu haben, der sich wohltuend von den kreidewerfenden, kraftmeiernden und Allotria treibenden Kindsköpfen in ihrer Klasse unterscheidet.
    Obwohl 1986, läuft mittlerweile dieselbe Kassette von Simon & Garfunkel zum sechsten Mal. Insgeheim träumt man davon, das Kabel des Recorders durchzuschneiden. Dennoch widmet man sich mit Hingabe der ersten Erforschung der weiblichen Anatomie.
     
    Merke: Wenn man beim Streicheln abrutscht und aus Versehen mit der Hand zwischen den Beinen des Mädchens landet, ist Aufregung unangebracht.
     
    Claudia reagiert darauf nicht. Tut, als sei nichts passiert. Sie hat keinen Schock erlitten. Und sie macht keine Anstalten, zu protestieren oder gar zu fliehen.
    Man greift noch einmal zwischen ihre Beine. Und noch einmal. Denn hinter dem Reißverschluss der Stonewashed-Jeans verbirgt sich das größte Geheimnis des Lebens, vom Tod vielleicht abgesehen. Obwohl man keine Ahnung hat, was es bedeutet, miteinander zu schlafen, will man es. Leider will Claudia nicht. Noch nicht. Und es ist keine Frage von Jahren, sondern von Wochen. Aber das weiß man nicht, weil man erst sechzehn ist.

 
    Wenn morgens um sechs der Radiowecker dröhnt, sitzt man in der nächsten Sekunde aufrecht im Bett und schreit Huuuuch!, weil man enorm schreckhaft ist.
    Sobald man sich beruhigt hat, denkt man an
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