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Versteckt wie Anne Frank

Versteckt wie Anne Frank

Titel: Versteckt wie Anne Frank
Autoren: Marcel Prins , Peter Henk Steenhuis
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Meine Eltern waren für mich Fotos. In meinem Zimmer stand ein Foto von ihnen: Das waren Vater und Mutter, und ihnen schrieb ich. Hinter ihnen steckte nichts Fühlbares, nichts. Wie diese Briefe meine Eltern erreichten, darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Und als ich den Lehrstoff nachgeholt hatte, ging ich dennoch nicht in Hengelo zur Schule – offensichtlich wäre es in einer so kleinen Gemeinde doch zu gefährlich gewesen, wenn plötzlich ein unbekanntes Mädchen in die Schule gegangen wäre.
    In Hengelo gab es viele Fabriken. Damit die Deutschen sie nicht weiter benutzen konnten, wurde die Stadt ab 1943 schwer von den Engländern bombardiert. Dann saßen wir nachts oft nebeneinander unter der Treppe: Tante Marie, der kleine Wim und ich. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte ich zu Tante Marie, »wenn wir sterben, sterben wir alle drei.« Onkel Kees, der alles Mögliche beim Widerstand machte, setzte sich manchmal auch unter die Treppe, und ganz ab und zu war noch ein anderer Untertaucher dabei. Ich erinnere mich zum Beispiel an Onkel Remmert, den jüngsten Bruder von Tante Marie, der sich zum Arbeitseinsatz hätte melden müssen. Wenn Gefahr drohte, zog Onkel Kees den Teppich unter dem Esszimmertisch weg und öffnete eine Luke, durch die Remmert verschwand. Teppich darüber und den kleinen Wim mit seinen Bauklötzen darauf. Ich habe zweimal erlebt, dass die Deutschen auf der Suche nach Untertauchern reinkamen, aber sie fanden nur zwei spielende blonde Kinder.
    Anfang 1944 wurden wir mit der ganzen Familie zum Kwakersplein nach Amsterdam evakuiert . Gerade rechtzeitig – eine Woche später fiel eine Bombe auf das Haus in Hengelo.
    In Amsterdam konnte ich zum ersten Mal kurz zur Schule gehen, ich gehörte jetzt »ganz normal« zur Familie. In dieser Zeit gab es so viele neu zusammengestellte Haushalte, dass die genauen Verwandtschaftsverhältnisse niemanden mehr kümmerten. Ich ging höchstens sechs Monate zu dieser Schule. Ich fand es wunderbar! Endlich war ich mit gleichaltrigen Kindern zusammen. Aber sie konnten das Einmaleins viel besser herunterleiern als ich, das hatte ich noch nicht gelernt.
    In Amsterdam verstand ich zum ersten Mal wirklich, was einem geschehen konnte, wenn man Jude war. Das kam durch Danny, einen Klassenkameraden. Er war ein hübscher Junge mit dunklen Augen und schwarzen Locken. Wir gingen jeden Tag zusammen zur Schule. Bis zu dem Morgen, an dem ich klingelte und seine Mutter mit roten Augen erzählte, Danny sei eine Weile woanders und würde vorläufig nicht zur Schule kommen. Da fiel bei mir der Groschen. War das überhaupt seine Mutter? Er heißt nicht Danny Pieterse, dachte ich, genauso wenig wie ich Rietje Fonds heiße.
    Zu Beginn des Hungerwinters wurde die Schule geschlossen: Es gab kein Heizmaterial, keine Nahrung, nichts. Ich war den ganzen Tag auf der Straße auf der Suche nach Essen. Tante Marie flocht meine langen blonden Haare zu zwei Zöpfen. Beim Kwakersplein um die Ecke gab es ein Lebensmitteldepot neben einer kleinen Kaserne der Wehrmacht . Da hing ich oft ein wenig herum, bis ein Soldat auf mich zukam und mir eine Möhre oder ein Stück Brot gab.
    Zu Hause sagte ich dann stolz zu Tante Marie: »Sieh nur, was ich habe!«
    »Woher hast du das?«
    »Ich sage nichts, echt nicht, und dann sagen sie immer: ›Hallo, Gretchen‹ zu mir. Wenn die wüssten, wer ich bin!«
    Auch Heizmaterial suchte ich auf der Straße. Zwischen den Straßenbahngleisen steckten kleine Holzklötze, mit denen man sehr gut Notöfen befeuern konnte. Obwohl es natürlich verboten war, nahmen alle diese Klötze mit. Man musste nur gut aufpassen, denn wenn die Deutschen es merkten, schossen sie schon beim Heranfahren. Ich war nicht stark genug, um die Holzklötze aus dem Boden zu lösen, aber ich war klein, mager und flink. Das nutzte ich. Ich kroch hinter den Leuten her, die die Holzklötze heraushebelten. Wurde geschossen, schlüpfte ich zwischen ihren Beinen hindurch, nahm das Holz blitzschnell an mich und machte mich aus dem Staub.
    Im Herbst 1944, noch bevor der Winter wirklich anfing, waren wir ein paar Wochen zu Besuch bei Verwandten auf einem Bauernhof in der Nähe von Zaandam. Wir gingen zu Fuß von Amsterdam aus. Wenn man acht Jahre alt ist und viel zu wenig im Magen hat, ist das eine elend lange Strecke. Als wir endlich ankamen, war es, als wären wir im Himmel gelandet. Auf dem Bauernhof gab es sogar echte Butter!
    Während des Hungerwinters wurde alles immer schwieriger, vor
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