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Verleumdung

Verleumdung

Titel: Verleumdung
Autoren: Karen Vad Bruun , Benni Boedker
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danach aussieht. Das Seil ist längst verrottet. Jemand hat einfach die Waffe mitgenommen, ohne den Leichenfund bei der Polizei zu melden. Die Waldtiere und der Lauf der Zeit haben alle Spuren verwischt. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick scheinen.«
    *
    Kaum war Jonas im Vorgarten angelangt und außer Sichtweite, erstarb sein Lächeln. Seine Erinnerungen hatten ihn mitten im Meeting überfallen, und es war ein Kraftakt gewesen, das Geschäft abzuschließen, ohne seine innere Verfassung preiszugeben.
    Er ließ sich schwer auf den Sitz seines Volvos fallen und drehte den Zündschlüssel, während er sich bemühte, wieder ruhig zu atmen. Er redete sich selbst gut zu, legte wie ferngesteuert den Gang ein und löste die Handbremse. Überlegte, ob er das Radio anmachen sollte, um sich abzulenken, entschied sich dann jedoch dagegen und ließ den Wagen langsam davonrollen. Dann schaltete er einen Gang höher, fuhr aber nur bis zur nächsten Straße. In diesem Moment brauchte er vor allem Ruhe, und in Skodsborg war das Risiko äußerst gering, an einem Sonntag jemand anderem als einer Haushaltshilfe oder einer Nanny von internationalem Format zu begegnen.
    Er zog die Handbremse an und stellte den Motor aus. Als er aufsah, begegnete er seinem eigenen, erschrockenen Blick im Rückspiegel. Merkwürdigerweise war er das Einzige, was Jonas’ aufgewühlten Zustand verriet. Das kurze dunkelblonde Haar saß perfekt, und seine Jacke verbarg die Schweißflecke unter seinen Armen. Doch sobald er die Augen schloss, kam alles zurück:
    Der Schrei des Jugendlichen hallte im Raum wider und machte den Aufenthalt in der Baracke noch unerträglicher, als er es durch den stechenden Gestank von Schweiß, Erbrochenem und Blut ohnehin schon war. Das Thermometer war am Nachmittag auf 49 Grad geklettert. Aus der Ferne drang gedämpft der Lärm einiger Soldaten vom Camp Dannevang herein, die sich mit nackten Oberkörpern und ihren Hundemarken um den Hals zu einem improvisierten Beachvolleyball-Turnier mitten im Camp getroffen hatten. Hier drinnen war der Krieg dagegen ganz nah. Sie waren dabei, eine Grenze zu überschreiten, aber nun gab es keinen Weg mehr zurück. Der irakische Dolmetscher meinte, sie seien kurz davor, ihn zu brechen. Und als Jonas vor mehr als einer Stunde vorsichtig angedeutet hatte, dass es jetzt genug sei, hatte er eine deutliche Antwort erhalten: »Wessen Leben war es doch gleich, das hier am meisten zählt?«
    Der Blick, mit dem Overbye seine gezischten Worte begleitet hatte, war noch deutlicher gewesen. Als stellvertretender Kompaniechef durfte Jonas es nicht wagen, die Autorität seines Hauptmanns in Frage zu stellen. Und schon gar nicht im Beisein zweier Untergebener, die genau in diesem Moment vor allem erfahren sollten, dass es der Nation diente, wenn sie den Kopf eines misshandelten Siebzehnjährigen nach oben hielten, damit ihr Hauptmann ihm ins Gesicht spucken konnte.
    Jonas richtete sich auf, nahm die Zurechtweisung entgegen und wunderte sich einmal mehr darüber, wie leicht es ihm fiel, Befehlen zu gehorchen. Natürlich fügte er sich gerade deshalb so gut in die Armee ein und hatte es wohl immer schon getan. Doch obwohl er sich sofort wohlgefühlt hatte, als er vor fast zehn Jahren die Kaserne der Leibgarde betreten und zum ersten Mal die dort herrschende Disziplin und Struktur erlebt hatte, hätte er es sich nie träumen lassen, dass er einmal beim Militär Karriere machen würde. Eine Karriere, die ihn mit Lex’ Worten »aus der gewöhnlichen Masse herausheben würde«. Beim Gedanken an ihre hochtrabende Ausdrucksweise musste er unwillkürlich lächeln. Sie war nie vor großen Worten zurückgescheut, seine Lex. Oft bewahrheiteten sich ihre Prophezeiungen tatsächlich, als wäre allein der Wille, den sie in ihre Worte legte, stark genug, um die Dinge Wirklichkeit werden zu lassen. Zumindest, was ihn betraf.
    Während der Grundausbildung hatte er sich zum ersten Mal seit vielen Jahren entspannt gefühlt, da er sich nicht mehr um all die versteckten Codes und Hierarchien kümmern musste, die zu durchschauen ihn während seiner Schulzeit so viel Energie gekostet hatte. In einem Vorstadtghetto tat ein intelligenter Junge gut daran, seine Talente nicht zu sehr zu zeigen. Das hatte er schnell begriffen und verwendete seine Begabung stattdessen darauf, sich in einem sozialen Balanceakt den tonangebenden Gruppen in der Schule, auf der Straße und im Jugendzentrum anzupassen. Natürlich war die
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