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Verleumdung

Verleumdung

Titel: Verleumdung
Autoren: Karen Vad Bruun , Benni Boedker
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ein paar Berichte fertig zu schreiben und sich einen Überblick über all die eiligen Arbeitsaufgaben zu verschaffen, die sich trotz des üblichen Sommerlochs angesammelt hatten. Sie hatte den leisen Verdacht, dass die Auftraggeber ohnehin im Urlaub waren und die eiligen Ergebnisse, die sie per Mail verschickte oder auf Anrufbeantworter sprach, in Wirklichkeit darauf warteten, dass der Empfänger nach zwei Wochen im Süden erholt und sonnengebräunt an seinen Schreibtisch zurückkehrte. Entweder verursachte die Hitzewelle mehr Gewalttaten und Tötungsdelikte als normal – was vermutlich zutraf, die dänischen Statistiken auf diesem Gebiet kannte sie nicht –, oder aber einige der festangestellten Institutsmitarbeiter nutzten die Gelegenheit, der Vertretung so viel Arbeit wie möglich aufzubürden, was mit hundertprozentiger Sicherheit zutraf. Die kollegiale Solidarität umfasste selten Zeitarbeiter wie sie, ganz gleich, wie qualifiziert sie war.
    »Ach, habe ich etwa vergessen, das zu erwähnen?«, hatte der Vizekommissar gefragt. »Von dem Toten sind nur noch die Knochen übrig, der Rest ist verwest. Die Leiche muss aus der Erde geborgen werden und so weiter. Ist das nicht Ihr Spezialgebiet? Wie lautet noch mal Ihr Spitzname? Die Skelettfrau, stimmt’s?«
    Sie hatte die Frage geflissentlich überhört und sich stattdessen nach den näheren Umständen erkundigt.
    »Wie gesagt, ich weiß auch nicht mehr. Ich bin noch auf dem Weg dorthin. Wir sind gerade erst angefordert worden. Aber die Dorfpolizei hat die Leiche immerhin gefunden, zu irgendwas ist sie also doch gut.«
    »Was soll das denn heißen?«
    Diesmal sparte er sich die Antwort.
    Noch immer schlängelte sich der Stau vor ihnen auf der Autobahn, so weit das Auge reichte. Linnea wurde plötzlich an einen anderen heißen Tag erinnert, den sie nie vergessen würde; wegen des Leichengestanks und des überwältigenden Gefühls von Grauen und Ohnmacht, in das er sie versetzt hatte.
    Vielleicht tauchte die Erinnerung gerade jetzt auf, weil alles gewissermaßen an jenem Tag begonnen hatte: die lange Reise, die sie schließlich nach Dänemark geführt hatte. Nur einen Monat nach der Katastrophe, deren Ausmaß sich bis heute nicht abschließend einordnen ließ, hatte Linnea sich im New York Office of Chief Medical Examiner in der 1st Avenue nahe dem East River eingefunden. Sie hatte erst ein halbes Jahr ihrer Doktorandenausbildung absolviert, als sie die Gelegenheit nutzte, bei der erdrückenden Identifikationsarbeit am Ground Zero zu helfen. Wie alle anderen hatte sie ihr Leben bereits in ein Vorher und Nachher eingeteilt, als sie am 11. September 2001 wie versteinert vor dem Fernsehschirm saß. Und sie konnte sich nichts Erfüllenderes vorstellen, als ihre Ausbildung genau hier einzusetzen, ihr Wissen und ihre Erfahrung im Epizentrum der Katastrophe anzuwenden.
    Als sie am Ground Zero ankam, sah es dort aus, als wären die todbringenden Flugzeuge erst wenige Sekunden zuvor in die Türme gekracht. Noch immer stieg aus den Ruinen Rauch auf, und die großen Stahlbalken ragten zerklüftet und anklagend aus der Mondlandschaft heraus. Man hatte in den Trümmern mehr als sechstausend Leichenteile gefunden. Überall um sie herum arbeiteten Rechtsmediziner, Pathologen und Anthropologen an Tischen und in Zelten, um so viele Opfer wie möglich zu identifizieren. In den ersten Tagen hatte sie noch das Gefühl, etwas beitragen zu können. Sie fand einen Sinn darin, aktiv mitzuwirken. Aber schon nach kurzer Zeit begann das unvorstellbare Ausmaß des Grauens an ihr zu zehren.
    Kaum ein Toter konnte direkt identifiziert werden. Die Opfer waren verbrannt, in Stücke gesprengt oder auf unvorstellbare Weise verstümmelt worden. Die Temperatur ganz oben in den Türmen, wo die Flugzeuge eingeschlagen waren, hatte Berechnungen zufolge bei rund tausend Grad gelegen und war somit höher als bei einer Kremierung. Es gab Tausende von Toten, und für Linnea wurde der Sinn des Ganzen immer unfassbarer. Als sie damals in einer Pause vor einem Zelt der Heilsarmee auf der East 30th Street gestanden hatte, den Kaffeebecher in der einen, die Beatmungsmaske in der anderen Hand, war ihr bewusst geworden, dass sie nicht einfach an die Universität zu ihren Lehrbüchern zurückkehren konnte, als wäre nichts geschehen. Sie musste in die wirkliche Welt hinaus.
    Der Tod, die Hoffnungslosigkeit, das Grauen – all das war ein Teil von ihr geworden.
    2
     
    L innea nahm ihren Blackberry aus der Tasche
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