Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verleumdung

Verleumdung

Titel: Verleumdung
Autoren: Karen Vad Bruun , Benni Boedker
Vom Netzwerk:
Rembrandt wäre ein großer Künstler?«
    »Das ist er ja auch, aber wir müssen jetzt gehen.«
    Doch selbst als sie von ihrer Reise zurückgekehrt waren, war Linnea hartnäckig geblieben. Das Bild übte eine faszinierende und anziehende Wirkung auf sie aus. Sie stürzte sich sofort auf die Kunstbücher der Mutter, zunächst ohne zu finden, wonach sie suchte. Ihre Mutter war nur froh über das plötzliche Kunstinteresse, das ihre sonst so gleichgültige Tochter an den Tag legte. Entsprechend enttäuscht und verwirrt zeigte sie sich, als Linnea endlich ein Buch mit dem Bild gefunden hatte, nach dem sie so sehnsüchtig gesucht hatte. Verärgert hatte die Mutter das Buch von sich geschoben, als Linnea ihr begeistert das Bild hatte zeigen wollen.
    »Das ist abscheulich«, hatte sie gesagt. »Und auf keinen Fall etwas, wofür sich ein Mädchen interessiert.«
    Und der forschende, fast angeekelte Blick der Mutter hatte bewirkt, dass Linnea ihr nie zu erzählen versuchte, was sie so sehr an der Anatomie reizte, oder welche Freude sie später dabei empfand, sich in ihre Arbeit am menschlichen Skelett zu vertiefen. Sie verstand nur zu gut, dass es nicht normal war, sich als Mädchen mit solchen Dingen zu beschäftigen.
    Heute wusste sie natürlich, dass das Bild »Anatomie des Dr. Tulp« hieß und Rembrandt es im Jahre 1632 gemalt hatte. Es stellte einen Anatomen in Amsterdam dar, einen Arzt, der gerade eine Leiche sezierte. Genau genommen die Leiche eines Verbrechers namens Aris Kindt, der am selben Tag hingerichtet worden war, weil er einen bewaffneten Raubüberfall begangen hatte. Schon damals hatte sich bei Linnea kein rechtes Unbehagen einstellen wollen, auch wenn das Bild mit der geöffneten Leiche keinen angenehmen Anblick bot. Doch hier war ein Arzt am Werk, der mehr darüber erfahren wollte, wie das Innere eines Menschen aussah, damit er anderen helfen konnte. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sich etwas unter der Oberfläche versteckte. Dass der menschliche Körper Geheimnisse barg, die nur von Menschen entdeckt werden konnten, die ihn genau studiert hatten.
    Linnea zweifelte nicht daran, dass ihre Begegnung mit diesem Bild die unmittelbare Ursache dafür war, dass sie sich später für ein Medizinstudium entschied; zunächst mit dem Ziel, Pathologin zu werden. Und dass sie das Studienfach relativ schnell wechselte, um sich auf das menschliche Skelett zu spezialisieren, war eigentlich nicht weiter verwunderlich. Denn man konnte schwerlich noch weiter nach innen vordringen, noch dichter an die Geheimnisse herankommen. Nichts am Menschen sollte ihr unbekannt bleiben.
    *
    Fast ein Jahr, nachdem er nach Hause geschickt worden war, war Jonas dem irakischen Dolmetscher erneut begegnet. Er war davon ausgegangen, Firaz Khalid nie wieder zu Gesicht zu bekommen. Außer vielleicht als unwillkommenen Gast in seinen ständig wiederkehrenden Alpträumen. Dennoch hatte er auf einmal dort gestanden und Jonas nicht nur in Schock versetzt, sondern ihm auch das Gefühl gegeben, dass die Welt um ihn herum einstürzte.
    Es hatte einfach keinen Sinn ergeben. Er war aus dem Nichts aufgetaucht. Nicht nur auf dänischem Boden, sondern ausgerechnet auf der Lyngby Hovedgade, an einem Samstag. In der Stadt hatte es von Leuten mit Einkaufstüten und älteren Damen mit Hackenporsche gewimmelt. Jonas selbst war auf dem Weg zum Blumenladen gewesen, eine weitere Bußhandlung gegenüber Lex. Er war unvorbereitet und wehrlos gewesen und hatte einen kleinen Stau in der bummelnden Karawane verursacht, als er mit einem Mal abrupt stehen geblieben war. Er hatte den Dolmetscher sofort wiedererkannt, als der ihm entgegenkam, obwohl sich seine Kleidung, ja sein ganzer Stil, verändert hatte. Er hatte die Tarnfarben der Armee gegen einen Anzug getauscht, der teilweise von einer riesigen und offensichtlich nagelneuen Daunenweste verdeckt wurde. Ein voluminöses Halstuch und ein paar dicke Handschuhe schützten ihn gegen den eisigen Novemberwind. Seine neue Aufmachung sah nach einer Mischung aus Restpostenverkauf und Neureichenboutique aus.
    Aber die Visage, die Jonas seit mehr als einem Jahr nachts heimsuchte, hatte sich nicht verändert. Sie hatte lediglich den fahlen Ton angenommen, der die Gesichter all derer kennzeichnete, die es wagten, sich in den Wintermonaten in Dänemark aufzuhalten. Firaz’ Züge wurden von einem strahlenden Lächeln erhellt, als er ihn erblickte. Jonas konnte noch immer kaum fassen, dass es sich wirklich um den irakischen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher