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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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oder wenn sie vergeblich Anstalten macht, aufzustehen – selbst diese herzzerreißenden Versuche der Kontaktaufnahme sieht Malte als etwas Schönes, Poetischesan. Gretels »Oh bitte –« lade die Mitmenschen zur Assoziation ein und könne einerseits als »Oh bitte, bleib « oder als »Oh bitte, geh « interpretiert werden. In dieser offenen Form schwinge eigentlich beides gleichzeitig mit:
    »Einerseits wünscht sich Gretel bestimmt, dass wir bei ihr bleiben, andererseits ist sie, so wie ich sie kenne, sicherlich auch froh, wenn wir uns nicht blockieren und selbstständig unserer Wege gehen, so wie sie das ihr Leben lang gemacht hat.«
    Es kommt jetzt immer öfter vor, dass Gretel mit offenen Augen daliegt, aber nichts wahrnimmt. Wenn ich mit meiner Hand über ihre Augen wische, blinzelt sie nicht und zeigt keine Reaktion. Aber sie atmet noch.
    Meine Mutter hat mir in meiner Kindheit viele Märchen vorgelesen. Ich erinnere mich jetzt wieder an ›Die Boten des Todes‹. Darin ist der leibhaftige Tod ein bleicher, schmaler Mann, der versucht, einen Riesen zu überwältigen, aber zu Boden geschlagen wird und im Graben liegen bleibt, bis ein junger Mensch des Weges kommt und dem müden Tod wieder auf die Beine hilft. Dieser stellt sich dem Hilfsbereiten vor, und als dieser erschrickt, erklärt er ihm, dass er niemanden verschonen könne und leider auch bei ihm keine Ausnahme machen werde. Er will sich aber dankbar erweisen und ihm erst seine Boten schicken, bevor er ihn holt.
    Die ›Boten‹ sind in Gretels Fall schon deutlich zu erkennen: Nach gut zwei Wochen, in denen es Gretel auffallend gut ging und wir miteinander eine wunderbare Zeit voller Musik und mit vielen Besuchen verbrachten, geht es ihr jetzt wieder schlechter. Immer wieder röchelt sie, ihr Atem geht schnell und flach, sie ist nicht ansprechbar. Wenn ich ihren brodelnden Atem höre, wächst meine Angst, dass siesich wieder verschluckt. Wir müssen Gretel jetzt wohl oder übel absaugen. Irgendwie hatte ich die Hoffnung gehabt, das würde uns erspart bleiben. Wir haben das Absauggerät ja für diesen Zweck da, aber keiner von uns hat bisher gewagt, es zu benutzen.
    Jürgen, der Pfleger, erklärt, dass bei Gretel wahrscheinlich durch das viele Liegen und die bestehende Herzinsuffizienz Wasser in die Lunge gekommen sei, sodass sich Schleim gebildet habe, den sie nicht mehr ordentlich abhusten könne. Er bringt uns aber nicht die ersehnte Hilfe, denn er brauche zum Absaugen einen eigenen ›Auftrag‹ von der Pflegestation, für den man aber erst einen ›Antrag‹ stellen müsse. Das gehöre nicht zum normalen Repertoire. Er sei nur zur Grundversorgung und Wundpflege bei uns gebucht. Er wolle mit dem Absaugen eigentlich auch gar nicht erst anfangen, weil das erfahrungsgemäß ein ›Fass ohne Boden‹ sei. Dann riefen die Angehörigen ständig an, man solle zum Absaugen kommen, und das könne kein Pflegedienst leisten.
    Jürgen ist schon wieder weitergeeilt, als wir das Absauggerät holen, das wie ein Handstaubsauger mit einem langen elastischen Schlauch funktioniert. Zaghaft probieren wir, Gretel durch den Mund abzusaugen, so ähnlich, wie wir es vom Zahnarzt kennen. Doch sobald wir den Schlauch in ihren Mund geschoben haben, beginnt Gretel kräftig darauf herumzukauen, als wäre es ein großes Gummibärchen. Mit einiger Mühe und viel Fingerspitzengefühl gelingt es uns, den Schlauch wieder aus dem Mund herauszuziehen. Gretel röchelt weiterhin, atmet schnell und heftig, aber wir trauen uns nicht, ihr den langen Schlauch durch die Nase zu schieben. Ratlos stehen wir um sie herum.
    Ich rufe den Hausarzt Dr. El-Tarek an. Er hatte mir erklärt, dass wir kein ›spezialisiertes ambulantes Palliativ-Team‹ (SAPT) bräuchten, das ich eigentlich beantragen wollte, umzu verhindern, dass Gretel im Notfall wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. Der Hausarzt sagte, so ein Team sei sinnvoll, wenn es um komplizierte Schmerztherapie ginge, zum Beispiel bei Krebspatienten, aber ansonsten könne er uns genauso gut helfen.
    »Aber was ist am Wochenende oder in der Nacht?«, fragte ich ihn. Er antwortet: »Ich werde eine Ausnahme machen und rund um die Uhr erreichbar sein. Wissen Sie, was Hausarzt auf Englisch heißt? – Family Doctor .«
    Er gab mir seine Handynummer und macht sich nach meinem Anruf heute, obwohl es Samstag ist, gleich auf den Weg zu uns, um uns beim Absaugen zu helfen.
    Als er wenig später bei uns eintrifft und meine Schwestern und mich mit
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