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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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antwortete ich zögernd.
    »Du hast keine Kinder, behauptest du! Und ich denk’ immer, du kriegst andauernd Kinder.«
    Ich musste lachen: »Wieso glaubst du, dass ich andauernd Kinder bekomme?«
    Doch Gretel schien keine Zweifel zu haben: »Die haben es relativ gut, finde ich. Findest du nicht auch?«
    »Ich habe wirklich kein einziges Kind.«
    »Oh, wieso? Man hat doch meistens schon Kinder gehabt!«Ähnlich schwierig, wie sie von meiner Kinderlosigkeit zu überzeugen, war es, ihr unser verwandtschaftliches Verhältnis klarzumachen.
    »Wer bist denn du?«
    »Ich bin dein Sohn.«
    »Mein Sohn?« Sie blickte mich erstaunt an.
    »Ja, und du bist meine Mutter.«
    »Das wäre schön«, seufzte sie sehnsüchtig.
    »Aber es stimmt, Gretel! Ich bin dein Kind. Du hast mich geboren.«
    »Ich? Dich? Du bist doch viel zu groß!«
    »Bei meiner Geburt war ich natürlich viel kleiner!«
    Doch sie blieb skeptisch. »Und wie alt bist du?«
    »Zweiunddreißig.«
    »Und wo sind deine Kinder?«
    »Ich habe noch keine Kinder.«
    »Nicht? Und ich wollte schon sagen, schau mal nach deinen Kindern. Die hätten dich nämlich bestimmt sehr gerne. Aber du weißt ja vielleicht, was man dafür machen müsste, wie man das anstellen könnte.«
    Oft kamen mir die Tränen bei dem Gedanken daran, dass ich meine Mutter wohl nicht mehr mit Enkelkindern würde beglücken können, und dass meine Kinder sie wahrscheinlich nicht mehr erleben würden.
    »Du hast probiert, es zu schaffen, gell?«, fragte sie mich eines Abends augenzwinkernd.
    »Was meinst du?«
    »Das ist gar nicht so leicht. Da muss man halt ein bisschen warten, bis es soweit ist, dass man das hinkriegt. Wenn es einem überhaupt gefällt, welche zu kriegen.«
    »Ach so! Du meinst Kinder?«
    »Ja, das glaub’ ich. Also, jetzt im Moment hast du keine Kinder. Da direkt auf der Nase hast du gerade keine, aber dukönntest sie eigentlich da auch haben. Dann bräuchtest du nur deine Zähne ein bisschen vorzeigen und die Augen dazu, dann ist ja alles da.«
    Auf dem Dachfenster über meinem Bett hat sich mittlerweile eine kleine Schneeschicht gebildet. Ich stehe auf und versuche unter der Dusche das mulmige Gefühl aus meinem Albtraum wegzuspülen. Da fällt mir siedend heiß ein, dass ich ganz vergessen habe, heute Morgen mein Handy einzuschalten!
    Tatsächlich bestätigt sich meine böse Ahnung: Ich habe eine Nachricht auf der Mailbox. Meine ältere Schwester spricht betont ruhig, aber der Inhalt hat es in sich. Gretel sei gestern in der Küche hingefallen, die Pflegerin habe beim Versuch, sie aufzuheben, einen Hexenschuss erlitten. Mein Vater habe die ganze Nacht kein Auge zutun können, da er dem Hausarzt bei einer ambulanten Operation von Gretels wundgelegenem Rücken assistiert habe. Mir jagen dramatische Bilder durch den Kopf: Skalpell, Schere, Tupfer, ein blutiges Laken. Hoffentlich haben sie Gretel ein starkes Schmerzmittel gegeben!
    Im Einvernehmen mit uns Kindern und dem Hausarzt hatte sich mein Vater dafür entschieden, Gretel die Einweisung in ein Krankenhaus möglichst zu ersparen. Aber eine Wund-OP im Schlafzimmer mit meinem Vater als Krankenschwester? Häusliche Pflege hatte ich mir anders vorgestellt.
    Ich rufe zu Hause an, aber erreiche nur den Anrufbeantworter. »Hallo, hier ist Familie Sieveking«, ertönt die Stimme meiner Mutter aus längst vergangener Zeit. »Leider sind wir zur Zeit nicht da, aber wir freuen uns über Ihre Nachricht und rufen sobald wie möglich zurück.«
    Ich suche beim Hören im Geist nach zugehörigen Bildern, doch die Erinnerungen an die gesunde Gretel sind längst von den intensiven Erfahrungen mit der neuen Gretel verstellt,die einen solchen Text gar nicht mehr auswendig aufsagen könnte. Wird es mein Vater jemals über das Herz bringen, eine neue Nachricht aufzusprechen? Ich versuche, ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber auch dort nimmt er nicht ab. Es grenzt schon an ein Wunder, wenn er mal an sein Mobiltelefon geht. Ich spiele mit dem Gedanken, einfach alles stehen und liegen zu lassen und mich sofort in den Zug nach Bad Homburg zu setzen. Allerdings liegt das fast 600 Kilometer entfernt, und ich habe die ganze Woche wichtige Termine.
    Die letzten Monate habe ich fieberhaft daran gearbeitet, meinen neuen Film fertigzustellen, um die Premiere noch mit meiner Mutter zu erleben. Aber ich war nicht schnell genug. Das Leben hat mich rechts überholt, und auch der schnellste ICE kann das jetzt nicht mehr aufholen.
    Mein Handy klingelt und holt mich
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