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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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betäubt? Zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? Brauste dir’s nicht in den Ohren?Nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? Ward dir’s nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? Lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?‹ Der Mensch wusste nichts zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort in das unbekannte Land.
    Am nächsten Morgen stehe ich mit meinen beiden Schwestern an Gretels Bett. Meine ältere Schwester reist heute ab, sie muss arbeiten und sich um ihr Kind kümmern.
    Unter all den Tausenden Fotos, die mein Vater über Jahrzehnte aufgenommen und liebevoll in Fotoalben geklebt hat, gibt es kein einziges klassisches Familiengruppenbild, wie in den alten Fotoalben meiner Großeltern. 1941, kurz bevor der Vater in die Armee eingezogen wurde, entstand ein Gruppenbild von Gretel mit ihren Geschwistern und den Eltern. Das Foto war als Andenken für die Hinterbliebenen gedacht, falls dem Vater im Krieg etwas passieren sollte.
    Jetzt stehen wir vor Gretel nebeneinander, als solle von uns auch ein solches Gruppenbild aufgenommen werden, und es ist, als sei auch sie nun an eine Art Front befohlen und verbringe ihre letzten Tage hier bei uns. Jede Nacht ist mittlerweile gefährlich, jederzeit kann es sie erwischen.
    Jetzt öffnet sie die Augen – nimmt sie wahr, dass wir uns zum Abschiedsbild vor ihr versammelt haben? Ihr Blick ist leer. Sie ist wie eine Kamera, doch ohne Fotograf dahinter. Niemand betätigt den Auslöser, es ist nicht mal ein Film eingelegt. Dann merke ich, dass es doch noch einen aufmerksamen Betrachter gibt: Mein Vater blickt durch die Tür hinter Gretels Bett, tritt nun zwischen mich und meine Schwestern und legt die Arme um uns. Mit Tränen in den Augen blickt er auf Gretel:
    »Ich bin so stolz, diese Frau gehabt zu haben, die mir diese Kinder geschenkt hat.«
    In dieser Nacht versucht Malte neben seiner Frau im Bett zu schlafen. Eigentlich ist es absurd: Ein Leben lang hatten die beiden getrennte Schlafzimmer, und jetzt auf der Wechseldruckmatratze finden sie endlich zueinander? Doch Romantik kommt kaum auf beim ständigen Zischen des Auf- und Abpumpens der Matraze und beim Brummen des Pumpmotors. Vor allem aber lässt Gretels rasselnder Atem Malte keine Ruhe. Mehrmals in der Nacht saugt er sie ab, doch das Röcheln wird immer nur für kurze Zeit besser. Erst am nächsten Morgen ist sie etwas ruhiger, doch ihr Atem geht ungewöhnlich flach und schnell.
    Meine jüngere Schwester fährt heute in ihr Büro, wo sie Berge von liegen gebliebenen Sachen aufarbeiten muss. Außerdem verlangen die Kinder zu Hause nach ihr. Auch ich habe heute das starke Bedürfnis, mich wieder einmal um mein eigenes Leben zu kümmern, mit meiner Freundin zu telefonieren, E-Mails zu beantworten und an meinem Film zu arbeiten. Die Cutterin hat inzwischen eine Version unseres letzten Drehtages von vor einer Woche geschnitten. Als ich die Szenen betrachte, bin ich froh, denn auf einmal werden all die Informationen überflüssig, die ich geplant hatte in einem langen Voice-Over-Kommentar zu erzählen. Warum soll ich an dieser Stelle von all den Querelen im Krankenhaus berichten? Die Bilder sprechen für sich: Gretel mit geschlossenen Augen wird von ihren Enkelkindern gefüttert.
    Am späten Nachmittag hebe ich zusammen mit Gabija meine Mutter in ihren Sessel und verabreiche ihr vorsichtig ein paar Löffel Tee. Ab und an sagt sie »Aua« oder »Oh, bitte –« Ichspiele ihr Suzanne auf der Gitarre vor, und prompt schläft sie wieder tief und fest ein. Dabei sinkt ihr Kopf zur Seite, und ich versuche, ihn aufzurichten. Dann kommt meine Schwester dazu. »Gretel ist ja ganz bleich!«, stellt sie besorgt fest. Stimmt! Das war mir gar nicht aufgefallen. Ihr Atem geht jetzt wirklich sehr schnell, die Brust hebt und senkt sich eher wie bei einem kleinen Hund als wie bei einem Menschen. Wir zählen die Atemzüge pro Sekunde, aber es ist doch nicht so bedenklich, wie wir dachten. Der Arzt hat uns gesagt, wenn sie nicht öfter als einmal pro Sekunde einatmet, sollten wir uns keine Sorgen machen. Wir legen sie wieder ins Bett und überlegen, ob wir sie noch mal absaugen sollen. Aber das ist immer sehr anstrengend für sie, und da sich der Atem nicht so schlimm anhört, warten wir lieber ab.
    Zusammen mit Malte und Gabija setzen wir uns zu Tee und Kaffee an den großen Tisch im Wohnzimmer, von dem
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