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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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Flüssigkeit zugeführt bekomme, wie man im gesunden Zustand zu sich genommen hätte. Es könne dadurch verstärkt zu Unverträglichkeiten, Übelkeit, Bauchschmerzen und Erbrechen kommen. Verminderte Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr bringe dagegen Vorteile im Sterbeprozess: Weniger Erbrechen, Verringerung von Husten, weniger Schmerzen, weniger Einlagerung von Wasser und somit weniger Atemnot durch Ödeme. Eine natürliche Dehydrierung und das Fehlen von Nährstoffen kann im Körper am Lebensende sogar betäubend und euphorisierend wirken, also das Sterben leichter machen. Außerdem erfahre ich, dass eine Sauerstoff-Nasenbrille Mund- und Nasenschleimhäute austrocknet und möglichst nicht eingesetzt werden sollte.
    Unglaublich, dass die Informationen in diesem Buches, das offenbar von Zehntausenden in Deutschland gelesen wird und sich wochenlang in der Bestsellerliste hält, bei uns im Krankenhaus gar nicht zur Sprache gekommen sind.
    Zurück in Bad Homburg erscheint mir Gretel auf den ersten Blick wie ein heiliger Asket. Sie hat in den letzten drei Tagenvielleicht zweieinhalb Becher Tee getrunken, und ihr Gesicht, von ihrem schlohweißen Haar umrahmt, hat durch die hervortretenden Backenknochen und die markante Stirn eine ganz eigene neue Schönheit gewonnen. Ihr Blick ist klar wie schon lange nicht mehr. Als sie mich sieht, versucht sie sich aufzurichten, bringt Spannung in den Körper, aber sie kommt nicht hoch, bleibt einen Moment aufgestützt, gibt dann auf und flüstert müde: »Ich kann nicht mehr, bin tot, tot, tot.«
    Ich lasse mich erschüttert neben ihr nieder und stütze den Kopf in die Hände. Dann kommt meine Schwester dazu, kniet sich neben uns und schluchzt: »Ich bin so traurig, wenn du gehst und nicht mehr da bist, Gretel.«
    »Das kann man auch verstehen«, erwidert sie und lächelt verständnisvoll.
    Ich versuche diese Nacht in Gretels ehemaligem Zimmer, das ans Wohnzimmer angrenzt, zu schlafen, um in ihrer Nähe zu sein. Ich bin nachts eingeteilt, sie umzulagern. Gretels Zimmer ist Abstellraum für medizinische Geräte und Lager von Pflegematerial geworden. Neben dem Bücherregal steht der Rollstuhl, vor dem Bett das klobige Sauerstoffgerät, daneben die kleine Absaugpumpe, die wir zum Glück noch nicht benutzen mussten.
    Wieder einmal habe ich einen Albtraum: Gretel ist eine zerbrechliche Puppe, die ich in den Händen halte. Aber sie ist zu schwer und unhandlich, knickt hie und da ab, gleitet mir aus den Fingern, fällt auf den Boden und zerspringt. Zwischen den Scherben läuft ihr Inneres aus, wie bei einem zerbrochenen Honigglas, aus dem das kostbare Lebenselixier quillt.
    Es ist nun über eine Woche vergangen, seit Gretel aus dem Krankenhaus nach Hause kam, und meine Schwestern und ich sprechen mit meinem Vater darüber, ob wir versuchensollten, mit Gretel über ihren nahen Tod zu reden. Meine ältere Schwester hat das Gefühl, dass sich Gretel nach ihrem Ende sehnt. Vielleicht bleibe sie nur noch am Leben, weil wir das so wollten, wir uns so sehr an sie klammerten. Sie habe in Gretels Lächeln in letzter Zeit so eine traurig-wehmütige Note wahrgenommen, und wolle jetzt versuchen, sich final von ihr zu verabschieden, um sie gehen zu lassen.
    Malte erinnert sich daran, wie es mit seinem Vater zu Ende ging: »Als Mami mit Papi über den Tod sprechen wollte, sagte er: ›Ich bin noch nicht soweit!‹« Und das Gesprächsangebot einer esoterischen Familienfreundin, die mit ihm über das Jenseits reden wollte, wehrte mein Großvater ebenfalls scharf ab: »Darüber kannst du ein Buch schreiben und viel Geld verdienen.«
    Am Abend überrascht mich Malte mit einer Erkenntnis: »Gretel ist gar nicht dement!« Er zitiert aus einem Wörterbuch über den Begriff ›Demenz‹: »Das Wort kommt von dem lateinischen ›de mente‹ und heißt wörtlich übersetzt ›ohne Geist‹. Das bedeutet ›unvernünftig, wahnsinnig, sinnlos.‹« Dann schaut er vom Buch auf: »Daraus folgt: Gretel ist nicht dement.«
    Mein Vater ist in philosophischer Stimmung. »Ein Zustand wie der Gretels bringt doch eigentlich unser Menschsein erst wirklich zutage.« Wenn ein Leben durch eine solche kognitive Veränderung von jedem vordergründigen Zweck, jedem offensichtlichen Ziel befreit werde, bleibe nur das Wesen an sich übrig, und ein erhellender Nihilismus mache sich breit. Selbst Gretels vergebliche Bemühung, uns etwas mitzuteilen, eine scheinbar sinnlose Geste, wenn sie nach etwas Nichtvorhandenem in der Luft greift
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