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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Autoren: Armistead Maupin
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Ein königlicher Empfang
    Sie war siebenundfünfzig, als sie San Francisco zum erstenmal sah. Als ihre Limousine das Betonlabyrinth des Flughafens verließ, spähte sie durchs Fenster in den strömenden Regen und kommentierte das abscheuliche Wetter mit einem leisen Seufzer.
    »Ich weiß«, sagte Philip, der ihre Gedanken erriet. »Aber sie rechnen damit, daß es heute aufklart.«
    Sie erwiderte sein leichtes Lächeln und kramte in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch. Seit der Abreise von der Ranch der Reagans fühlte sie sich ein wenig erkältet, doch ein Schnupfen sollte bei ihr auf entschlossenen Widerstand stoßen.
    Die Autokolonne fuhr jetzt auf einen breiten Highway – einen »Freeway«, wie sie vermutete –, und bald glitten sie in rascher Fahrt durch die Regenfluten, vorbei an schauerlichen Motels und Reklametafeln von alptraumhaften Dimensionen. Links ragte ein baumloser Hügel auf, der so unnatürlich grün war, daß man sich wie in Irland vorkam. Am Hang war mit weißen Steinen ein Schriftzug ausgelegt: SOUTH SAN FRANCISCO – THE INDUSTRIAL CITY.
    Philip sah, wie sie das Gesicht verzog, und beugte sich vor, um die merkwürdigen Hieroglyphen zu studieren.
    »Seltsam«, murmelte er.
    »Mmm«, erwiderte sie.
    Sie konnte nur hoffen, daß dies noch nicht die eigentliche Stadt war. Das schäbige Gewerbegebiet sah aus wie ein Abklatsch von Ruislip oder Wapping oder einem der gräßlichen kleinen Vororte in der Nähe von Gatwick Airport. Nun, sie durfte sich nicht jetzt schon das Schlimmste ausmalen.
    Nach dem ursprünglichen Plan hätte sie an Bord der Britannia in San Francisco eintreffen sollen – was die erfreuliche Aussicht geboten hätte, unter der Golden Gate Bridge hindurchzugleiten. Doch als sie Los Angeles erreicht hatte, war die See recht tückisch geworden, und die Unwetter, die sechs kalifornische Flüsse über die Ufer treten ließen, hätten mit ziemlicher Sicherheit auch ihrem unzuverlässigen Magen bös zugesetzt.
    Deshalb hatte sie sich für dieses nicht besonders majestätische Entree per Flugzeug und Auto entschieden. Sie würde die Nacht in einem Hotel verbringen und sich dann wieder auf der Britannia einquartieren, wenn diese am folgenden Tag im Hafen eintraf. Da sie ihrem Zeitplan um fast sechzehn Stunden voraus war, hatte sie den Abend ganz für sich, und der Gedanke an so viel Muße und Freizeit ließ ihr unverhofft kleine Schauer der Vorfreude über den Rücken laufen.
    Wo würde sie am Abend speisen? Vielleicht im Hotel? Oder bei jemandem zu Hause? Aber bei wem? Das war eine heikle Frage, denn sie hatte bereits inständige Einladungen von mehreren Damen der hiesigen Gesellschaft erhalten; darunter auch – und hier überkam sie ein leichtes Schaudern – von dieser grauenhaften Person mit den Erdölraffinerien und dem vielen Haar.
    Sie klammerte das Abendessen vorerst aus und wandte sich wieder der vorbeihuschenden Szenerie zu. Der Regen schien ein wenig nachgelassen zu haben, und am schiefergrauen Himmel zeigten sich da und dort ein paar zaghafte blaue Stellen. Dann tauchte wie aus dem Nichts die City vor ihr auf – ein Durcheinander von hochkant stehenden Keksschachteln, das sie vage an Sydney erinnerte.
    »Schau!« rief Philip begeistert.
    Er zeigte auf einen schillernden Regenbogen, der wie ein Diadem über der Stadt schwebte.
    »Was für ein prächtiger Anblick«, murmelte sie.
    »Wahrhaftig. Die Protokollabteilung hat hier wirklich an alles gedacht.«
    Sie kicherte über seinen kleinen Scherz und fühlte sich zunehmend unbeschwert. Es schien angebracht, den Augenblick zu würdigen, indem sie den Bürgern huldreich zuwinkte, aber für Menschenansammlungen war entlang dieser Hauptverkehrsader kein Platz. Also ignorierte sie den Impuls und zog sich statt dessen die Lippen nach.
    Der Regen war zu einem Nieseln verkümmert, als die Autokolonne vom Highway abbog und in eine Gegend mit flachen Lagerhallen und vergammelten Cafés kam. An der ersten Kreuzung wurde das Tempo dramatisch gedrosselt, und Philip machte sie mit einer Kopfbewegung auf etwas aufmerksam.
    »Da drüben, Liebes. Deine ersten Jubler.«
    Sie wandte ein wenig den Kopf zur Seite und winkte einigen Dutzend Leuten zu, die sich an der Straßenecke versammelt hatten. Sie winkten kräftig zurück und hielten ein schwarzledernes Transparent hoch, auf dem in Buchstaben aus silberglänzenden Nieten zu lesen war: GOD SAVE THE QUEEN. Erst als sie die Rufe hörte, merkte sie, daß die Jubler alle Männer
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