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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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ihrer drei Schwestern gerufen. »Ise-Eri-Gretel-Adel« hatte ihre Mutter früher immer gerufen, in der Hoffnung, mindestens eine der vier Töchter möge reagieren. Aber die Schwestern sind auch nicht mehr die Jüngsten, und eigentlich hatten sie unisono erklärt, ein letzter Besuch bei Gretel in diesen schweren Tagensei ihnen zu belastend. Aber als mich heute meine Tante Eri anruft und ich ihr erzähle, dass Gretel mehrmals ihren Namen gerufen habe, gibt sie sich einen Ruck und entschließt sich doch noch zu einem Besuch.
    Als sie am nächsten Tag erschöpft von der Reise bei uns ankommt, ist sie beim Anblick ihrer jüngeren Schwester, die ganz abgemagert vor ihr daliegt, sehr betroffen und steht eine Zeit lang einfach schweigend an ihrer Seite.
    Ich schiebe ihr einen Stuhl heran und sie setzt sich mit Tränen in den Augen. Dann beginnen Erinnerungen aus ihr hervorzusprudeln. Sie berichtet von der gemeinsamen Kindheit im Zweiten Weltkrieg, als sich Gretel schrecklich fürchtete, in den dunklen Luftschutzkeller zu flüchten. Ich hatte mir früher nie Gedanken darüber gemacht, was meine Mutter damals alles erlebt haben musste. Die Bilder von zerbombten deutschen Städten, diese Endzeitstimmung, die ich nur aus Dokumentationen kenne, das waren ihre Kindheitserinnerungen. Eines der letzten Bücher, mit denen sie sich beschäftigte, ehe sie das Interesse am Lesen gänzlich verlor, war ›Der Brand‹, in dem der verheerende Bombenkrieg in Deutschland aufgearbeitet wird. Stuttgart hatte es besonders hart getroffen. Die Schwestern sammelten damals Bombensplitter als Souvenirs. Einmal war durch den Druck einer Detonation ein Stück vom Bordstein durch das Dach ins Schlafzimmer der Eltern geschleudert worden.
    Auch von der Internierung auf dem Land weiß meine Tante zu berichten, und ich erinnere mich, dass mir Gretel einmal erzählt hatte, wie sie als Kind auf einem Bauernhof untergebracht worden war, wo es oft nichts anderes zu trinken gab als gegorenen Apfelmost. Warum sie da war und warum es nichts anderes zu trinken gab, das habe ich sie damals merkwürdigerweise nie gefragt. Vielleicht lag auch der Grund dafür, dass sie mit ihrer Demenz eine so starke Butter-Obsession entwickelte,in ihren Nachkriegserfahrungen. Butter war in ihrer Kindheit ein äußerst kostbares Gut, wie ich erfahre. Warum hatte Gretel mir von all dem nie etwas erzählt? Und warum habe ich nicht nachgefragt?
    »Gretel war die Schönste von uns Schwestern und Muttis Liebling«, erzählt meine Tante weiter. Schließlich war der Krieg vorbei, aber der Schrecken ging weiter: Der Vater war nicht von der Front zurückgekehrt, und die Mutter wollte seinen Tod jahrelang nicht akzeptieren. Sie wurde depressiv, schloss sich heulend im Badezimmer ein. Ohne Beruf, allein mit den vier Töchtern, fühlte sie sich völlig überfordert, musste ständig Anträge stellen und Bittbriefe schreiben. Eri erzählt, dass sie genau wie ihre Mutter noch lange nach Kriegsende hoffte, der Papa möge eines Tages doch einfach wieder aus der Straßenbahn steigen und nach Hause kommen.
    Meine Tante erinnert sich aber auch an wunderschöne Radtouren und abenteuerliche Bergwanderungen, die sie in ihrer Jugend mit Gretel unternommen hat. Und während sie jetzt am Bett neben ihrer Schwester sitzt, streichelt sie liebevoll ihre schöne Hand: »Ach Gretelchen, ach Gretelchen.«
    Daraufhin schlägt sie die Augen auf und antwortet schnippisch: »Pass auf, sonst sag’ ich Erilein!«
    Als ich abends an Gretels Bett vorbeigehe, höre ich Malte, der andächtig davor steht, zu sich sagen:
    »Sie hat sich nie beschwert. Sie hat sich nie beklagt.«
    Im Weitergehen denke ich: ›Na klar! Wenn die eigene Mutter sich ständig als Opfer stilisieren und lauter Bittbriefe schreiben musste, in denen sie ihr Leid klagte, um für ihre Töchtern sorgen zu können, musste Gretel doch in ihrem Leben versuchen, ein Gegenprogramm zu entwickeln.‹
    So angenehm es für meinen Vater sicher war, dass ihm seine Frau keine Vorwürfe machte und sich nie beschwerte –das Ganze hatte einen Nachteil für ihre Beziehung: Man wurde nicht so recht schlau auseinander. Indem man es unbedingt vermied, »Besitzansprüche« auf den Partner zu erheben und den anderen, wie meine Mutter es ausdrückte, nicht durch »seine Gefühle manipulierte« oder »emotional erpresste«, wurde vieles nicht ausgesprochen, was einem auf dem Herzen lag.
    Durch die Demenz von solchen Hemmungen und ideologischen Barrieren befreit, zeigte Gretel
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