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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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und neun Jahre alt, viel reifer und zeigen sogar Interesse an pflegerischer Fürsorge. Als meine Schwester Gretel zu füttern beginnt, wollen die beiden Jungs es auch einmal probieren. Unter der Anleitung ihrer Mutter verabreichen die Enkel ihrer Großmutter vorsichtig ein paar Löffel der Bouillon. Ein Bild für die Götter!
    Mit fortschreitender Demenz wurden für meine Mutter der Radius und die Zeitspanne ihrer Aufnahmefähigkeit immer geringer. Für mich als Filmemacher wurde es dadurch einfacher, sie zu beobachten, da sie sich nicht mehr durch das Filmteam ablenken ließ. Aber ich erweckte in ihr auch nicht mehr automatisch die vertrauten mütterlichen Gefühle. Wie der Rest der Welt rückte ich immer weiter weg und wurde ihr fremder. So fiel uns das dokumentarische Arbeiten zwar leichter, aber dafür wurde mir das Herz immer schwerer. Die ganz spezielle Liebe meiner Mutter zu mir, ihrem Letztgeborenen, war während der Dreharbeiten noch einmal ganz stark aufgeflammt, doch dann langsam ausgebrannt – ist die Flamme nun ganz erloschen?
    Nachdem sich meine Schwester mit ihren Kindern wieder verabschiedet hat, sitzen wir am Abend unseres letztenDrehtags Gretel gegenüber. Sie ruht in ihrem Sessel, von den sanften Strahlen der untergehenden Sonne beschienen. Ihre Augen sind geschlossen. Adrian filmt ihr schönes, rosiges Gesicht, das durch ihre radikale ›Diät‹ scharfe Konturen bekommen hat. Ich sitze mit Kopfhörern und Mikro neben dem Kamerastativ am Boden und nehme ihren gleichmäßigen, aber flachen Atem auf. Da kommt plötzlich mein Vater ins Bild und beugt sich spontan zu ihr, um sie zu umarmen:
    »Gretel, Du siehst so schön aus. Du bist ’ne Schönheit!« Er kniet sich an ihre Seite. Sie freut sich über die Zuwendung und murmelt etwas Halbverständliches:
    »Wo ist denn der, der auskommt?«
    Malte gibt ihr einen Kuss, und ich bemerke, wie meine Mutter mich liebevoll ansieht. Wieder sagt sie etwas Kryptisches:
    »Ach, die Beinilige.«
    Ich ziehe die Kopfhörer ab, lege das Mikrofon zur Seite und fasse ihre Hand, die sie zu sich zieht. Ich küsse ihre Hand und sage:
    »Hallo Gretel.«
    Sie lächelt und erwidert klar verständlich:
    »Das ist ja schön.«
    Mein Vater hat Gretels Freunde und Verwandte ausdrücklich eingeladen, uns besuchen zu kommen, um sich von ihr zu verabschieden. Aber viele können es zeitlich oder aus gesundheitlichen Gründen nicht einrichten. Manche sagen auch ganz offen, sie wollten Gretel lieber so im Gedächtnis behalten, wie sie früher war. Eine nahe Verwandte erklärt sich genauer: »Ich möchte nicht, dass das Bild, das ich von Gretel habe, durch das Bild der kranken Gretel verstellt wird.« Eine gute Freundin erklärt meinem Vater, sie wolle lieber zur Beerdigung kommen, als Gretel in diesem Zustand zu sehen.
    »Dabei verpassen die hier wirklich etwas!«, findet mein Vater, der die Erfahrung gemacht hat, dass sich viele Freunde im Angesicht von Gretels Erkrankung abgewendet haben. »Sie sagen: ›Ihr wollt jetzt sicher auch viel Ruhe haben, wir denken viel an Euch.‹ Und dann hat es sich damit. Ein guter Freund, der gar nicht weit weg wohnt, versprach mir ein halbes Jahr lang: ›Nächsten Montag komm ich zu Besuch!‹ Irgendwann hat er wohl ein schlechtes Gewissen bekommen und sich dann gar nicht mehr gemeldet.«
    »Aber warum, denkst du, scheuen sich die Leute so sehr?«, frage ich ihn.
    »Ich glaube, es ist vor allem Angst. Ein Kollege hat mir gesagt, er habe große Sorge, in etwas hineingezogen zu werden. Er denkt, wenn man dem Kranken den kleinen Finger reicht, dann packt er gleich die ganze Hand. Was gar nicht stimmt! Aber das ist irgendwie typisch. Ich kenne eine Frau mit einem an Alzheimer erkrankten Mann und eine andere, die sich um ihren herzkranken Mann kümmert. Die sagen beide, ihre Freunde hätten sie verlassen.«
    Eine gute Freundin meiner Eltern hat mir vor einiger Zeit erzählt, es sei für sie unerträglich, dass Malte, wenn sie zu Besuch komme, nicht dafür sorge, dass seine Frau anständig angezogen sei. Gretel sei beim Kaffeetrinken in schlabbriger Pyjamahose aufgetaucht, hatte mehrere T-Shirts um den Hals gewickelt und sei barfuß herumgelaufen »wie ein Penner«. Mein Vater hatte für solche Belange einfach kein Feingefühl, und Gretel hatte da schon lange aufgehört, sich um ihr Äußeres zu scheren.
    »Aber es ergeben sich zum Glück auch neue Verbindungen«, lässt mein Vater mich wissen. »Einige Verwandte, mit denen wir früher wenig am Hut
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