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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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ihren sogenannten ›Sprungplatz‹ am Kopfende des Tisches, von dem aus sie jederzeit in die Küche konnte. »Von da aus rief sie dann ihre Kommentare.«
    »Ach, Quatsch!«, ruft Gretel in dem Moment dazwischen und alle lachen.
    Am Morgen nach dem üppigen Abendessen ist mein Vater verstimmt: »Das ist doch absurd, was hier abläuft! Wir schlagen uns die Bäuche voll, schlemmen, was das Zeug hält, während die Person, um die es hier geht, wegen derer wir uns versammeln, überhaupt nichts isst und verdurstet.«
    Als er mittags Besuch von einer Verwandten bekommt, ist er schon wieder etwas besser aufgelegt. Nach seinem Befinden gefragt, antwortet er: »Großartig! Schöner könnte es doch nicht sein, wie wir hier alle zusammen sind und feiern.« Die Verwandte ist etwas perplex und guckt ihn ungläubig an, während er fortfährt: »Schwierig wird es für mich sicherlich danach, wenn sie nicht mehr da ist. Dann kommt bestimmt ein Loch, denn es ist so völlig selbstverständlich, dass sie da ist.«
    Eine andere Freundin von Gretel, die nicht weit weg von Bad Homburg wohnt, hatte zunächst mit besonderem Ehrgeizauf Gretels Demenz-Diagnose reagiert und sich vorgenommen, sie regelmäßig zu besuchen. Die beiden kannten sich aus der ›Frauengruppe‹, einem feministischen Gesprächskreis, den meine Mutter Ende der 70er-Jahre mit aufgebaut hatte, in dem sich die befreundeten Frauen gegenseitig unterstützten.
    Die ambitionierte Freundin tat sich dann aber im Umgang mit der durch die Demenz veränderten Gretel ziemlich schwer. Wenn meine Mutter unwirsch oder abweisend auf ihre Fürsorge reagierte, war sie schnell eingeschnappt.
    Einmal sagte Gretel ihrer Freundin gleich nach der Begrüßung: »Du kannst jetzt gehen!«
    »Was hast du denn?«, fragte sie daraufhin unsicher.
    »Hau ab!«, war Gretels deutliche Antwort.
    Die Freundin aber gab nicht auf, sondern besuchte nach diesen Erfahrungen sogar einen Altenpflege-Kurs an der Volkshochschule. Doch auch das führte nicht zum gewünschten Erfolg: Sobald sie auftauchte, bekam Gretel schlechte Laune. Ganz bestimmt wollte sie nicht von ihr umsorgt werden. Auch der Vorsatz, Gedichte vorzulesen, stieß nicht auf Gegenliebe: »Ist doch Quatsch!«, war Gretels Kommentar zu den lyrischen Anwandlungen der Freundin, die verletzt entgegnete: »Dann eben nicht!«
    Ich erklärte ihr, dass Gretel auch auf mich und meine Familie teils sehr schroff reagierte. »Lass mich in Ruhe!« oder »Verschwinde!« hörte ich nicht selten, wenn ich sie etwa zu einem Spaziergang überreden wollte. Aber das hieß nicht, dass man ein paar Minuten später nicht wieder sehr willkommen war. Meistens war die Abwehr ein Reflex darauf, dass man etwas von ihr forderte. Sobald man sie aber nicht mehr drängte, etwa aufzustehen, kam sie oft ganz von allein auf die Beine. Vielleicht reagierte Gretel auf ihre besorgte Freundin auch deshalb besonders allergisch, weil sie spürte, dass die sich ihr gegenüberirgendwie verpflichtet fühlte. Gretel konnte es nicht ausstehen, wenn sich jemand mitleidig um sie bemühte.
    Als diese wohlmeinende Freundin nun zu ihrem letzten Besuch bei Gretel antritt, ist ihre Anspannung förmlich sichtbar. Sie hat eine bunte Stoffblume mitgebracht, die in seltsamem Kontrast zu all den echten Gewächsen in der Wohnung steht. Gretel, die im Sessel neben ihrem Bett im Wohnzimmer sitzt, zuckt bei der Begrüßung nicht einmal mit der Wimper, sondern klappt einfach die Augen zu. Anstatt sich mit ihr zu beschäftigen, verwickelt die Freundin daraufhin meinen Vater in ein tiefenpsychologisches Gespräch und wendet Gretel eine halbe Stunde lang den Rücken zu. Malte lässt sie schließlich unter einem Vorwand allein und kommt zu mir in die Küche, verdreht die Augen und sagt: »Ich glaube nicht, dass die beiden noch einmal zueinander finden.«
    Doch nach ein paar Minuten kommt die Überraschung: Gretels Freundin erscheint in der Küchentür. »Ich hatte ein intensives Erlebnis mit Gretel! Ich habe mich zu ihr gesetzt und eine Zeit lang einfach geschwiegen. Dann hat sie meine Hand genommen und an ihren Mund geführt. Und dann ist sie mit meiner Hand an meinen Mund gegangen.« Wir sind alle schwer beeindruckt von dem liebevollen Ritual, das sich Gretel zum Abschied von ihrer Freundin ausgedacht hat, die nun ganz beseelt nach Hause fährt.
    Tags darauf hört man Gretel mehrmals am Tag klar und deutlich nach »Eri« rufen, ihrer zweitältesten Schwester. Irgendwann in den letzten Wochen hat sie nach jeder
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