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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition)
Autoren: David Sieveking
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meinem Vater vor Gretels Pflegebett antrifft, ruft er begeistert: »Oh! So viele Kinder, wie schön! Das wusste ich gar nicht.« Dr. El-Tarek findet Gretels Lage gar nicht dramatisch, er bleibt ausgesprochen ruhig und entspannt. Alles normal, meint er, sie sei schließlich dehydriert und natürlich ohne Ernährung stark geschwächt, müsse viel atmen und könne den vielen Schleim nicht abhusten. Er zeigt uns, wie man mit dem Absauggerät durch die Nase arbeitet. Wir erfahren von ihm, dass sich beim Absaugen durch den Mund auch die Gefahr erhöhe, mit dem Schlauch in der Speiseröhre zu landen. Nach El-Tareks Einführung probiert sich auch mein Vater und schlägt sich ganz gut. Gretels Atem ist jetzt hörbar freier und weniger gehetzt.
    Der Arzt ist zufrieden und nimmt mich in der Küche zur Seite. Er sei etwas überrascht, denn nach seinem letzten Besuch habe er gedacht, wir wollten Gretel gar keine Nahrung und Flüssigkeit mehr geben. Jetzt hätten wir eine Art Mittelweg gewählt – sie habe zu wenig Flüssigkeit um zu überleben und zu viel um einfach zu sterben. Es sei seine Pflicht, uns nochmals darauf hinzuweisen, dass sie intravenös ernährtwerden könne, und dass, wenn wir das partout nicht wollten, er ihr auch Flüssigkeit unter die Haut spritzen könne.
    »Wir wollen Gretel einfach noch das geben, was sie annimmt«, erkläre ich ihm. »Sie hat ja manchmal noch selbst nach dem Becher gegriffen und teils sogar selbstständig etwas zu sich genommen.«
    Im Grunde ist das Wenige an Flüssigkeit, was sie noch kriegt, ja auch eher symbolisch, und eher noch eine Form der Zuwendung, etwas, dass man noch miteinander macht, wenn es geht.
    El-Tarek sagt, dass es schwierig sei, sich als Angehöriger in solch einer Situation konsequent zu verhalten. Wir würden schon das für uns Richtige und Angemessene tun, aber er rate dazu, Gretel wieder mit dem Schmerzpflaster zu behandeln, um sicher zu gehen, dass sie nicht leiden müsse. Beim Abschied sagt er uns, dass er sehr gerührt sei, eine so liebevolle, umsorgende Familie zu erleben. Leider müsse er bei seiner Arbeit viel Einsamkeit und Vernachlässigung im Alter erleben. Nicht selten überweise er Patienten ins Krankenhaus, weil es einfach niemanden gebe, der sich zu Hause um sie kümmere.
    Gretel ist nach dem Absaugen relativ ruhig, aber wir bleiben in Alarmbereitschaft und halten besorgt Wache an ihrer Seite. Allein ihren Mund einigermaßen feucht zu halten, ist eigentlich eine Vollzeitarbeit – ständig betupft und benetzt man Zunge und Gaumen.
    Wir diskutieren die Frage, ob Gretel jetzt wirklich wieder das Schmerzpflaster bekommen soll, das wir ihr vor der Einlieferung ins Krankenhaus gegeben hatten, und das vielleicht mit dafür verantwortlich war, dass sie sich so dramatisch verschluckt hatte.
    Im Laufe des folgenden Tages und der Nacht wird auch das Absaugen für uns zur Routine. Wir entschließen uns, Gretelwieder das Fentanyl -Pflaster zu geben. Es soll neben der Schmerzlinderung auch den Atem beruhigen.
    Vor dem Schlafengehen suche ich im Regal meiner Mutter das alte Märchenbuch heraus und lese die Geschichte von den ›Boten des Todes‹ nach, die mir gestern durch den Kopf gegangen ist. Man bekommt beim Lesen geradezu Mitleid mit dem Tod, wie er nach seiner Niederlage im Kampf mit dem Riesen elend daliegt und unfähig ist, sich zu erheben:
    ›Was soll daraus werden‹, sprach er, ›wenn ich da in der Ecke liegen bleibe? Es stirbt niemand mehr auf der Welt, und sie wird so mit Menschen angefüllt werden, dass sie nicht mehr Platz haben, nebeneinander zu stehen.‹
    Nachdem der nette junge Wanderer dem Tod wieder auf die Beine geholfen hatte, lebte der Mensch wieder munter in den Tag hinein, bis er eines Tages krank wurde und einige qualvolle Tage und Nächte verbrachte. Als er sich wieder erholt hatte, schob er den Gedanken an den Tod zur Seite und lebte freudig weiter. Bis ihm eines Tages jemand unvermutet auf die Schulter klopfte:
    Er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach: ›Folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.‹ ›Wie,‹ antwortete der Mensch, ›willst du dein Wort brechen? Hast du mir nicht versprochen, dass du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? Ich habe keinen gesehen.‹ ›Schweig,‹ erwiderte der Tod, ›habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? Kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? Hat der Schwindel dir nicht den Kopf
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