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Verfolgt

Verfolgt

Titel: Verfolgt
Autoren: Ally Kennen
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Stöckelschuhen los, was im hohen Gras nicht ganz einfach ist, bleibt wieder stehen und bückt sich. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie so außer sich bringt. Dann sehe ich Tyson im Gras liegen. Im Tod ist ihm die Zunge seitlich aus dem Maul gerutscht und er fletscht drohend die Zähne.
    »Wie ist das passiert?«, fragt meine Mutter mit brüchiger Stimme.
    Das war’s dann wohl mit der Hochzeit.

|303| SAZANNA
    Meine Mutter hat am Tor geparkt. Das Tor ist abgeschlossen, aber während ich noch mit dem Vorhängeschloss beschäftigt bin, reißen Jak und Johnny ein Stück vom Zaun nieder. Die Lücke ist groß genug, dass wir Kos hindurchhelfen können. Mutter will noch einmal zurückgehen und Tyson holen, aber ich verspreche ihr, dass wir wieder herkommen. Jetzt muss zuerst Kos so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Mutter stöckelt über das am Boden liegende Stück Zaun und läuft schon mal zum Auto. Sie legt eine Plastiktüte über den Beifahrersitz.
    »Blut geht nie mehr raus. Das muss ja nicht sein.«
    Kos lässt sich ins Auto verfrachten, weigert sich aber, meine Hand loszulassen. Jak, Johnny und ich quetschen uns hinten rein, meine Mutter fährt. Mein Arm ist schon ganz taub, aber ich lasse Kos nicht los. Da lockert sich sein Griff überraschenderweise und er schläft ein. Meine Mutter benimmt sich so selbstverständlich, als müsste sie jeden Tag einen verwilderten Jungen ins Krankenhaus fahren. Nur ab und zu macht sie eine Bemerkung wie zum Beispiel: »Was dagegen, wenn ich das Fenster aufmache? Dein Freund stinkt.«
    |304| Oder: »Hoffentlich holt niemand Tyson weg, bevor ich wiederkomme.«
    Ich will sie eben fragen, wieso sie überhaupt hier ist, da meldet sich Jak zu Wort und erzählt uns seine Geschichte. Hin und wieder werfe ich eine Frage ein, aber er scheint mich gar nicht zu hören.
    Er und seine Familie sind Kosovo-Albaner. Sie sind vor den Gräueltaten geflohen, die Serben und Albaner sich während des Bürgerkriegs angetan haben, von den Bomben der NATO ganz zu schweigen. Jaks Vater war schon länger tot und seine Großmutter meinte, sie wäre zu alt, um wegzugehen, aber Jak, sein Bruder Kostandin und ihre Mutter wurden von einer Schlepperbande im Laderaum eines Viehfutterlasters nach Großbritannien geschmuggelt.
    Sie ließen sich hier nieder, aber nach ein paar Monaten wurde ihr Asylantrag abgelehnt und sie wurden in die Beacon-Klinik gebracht, um dort auf ihre Abschiebung zu warten. Dann kam es an Weihnachten zu dem Gefangenenaufstand. Damals waren beide Jungen zwölf Jahre alt (sie sind nur elf Monate auseinander). Jak schlief gerade, als der Krawall ausbrach, und wurde von Mutter und Bruder getrennt. Er hat die beiden nicht mehr wiedergesehen. Er sprach kaum Englisch und wurde ein paar Monate danach in seine Heimat abgeschoben.
    »Das ist ja schrecklich!«, sage ich.
    »Ja. Ich war erst zwölf und hatte meine Familie verloren. Als ich in meine Heimat zurückkam, führte mein Volk immer noch Krieg gegen seine Nachbarn.«
    |305| Unvorstellbar!
    »Aber ich kam zurecht. Oma hat gut auf mich aufgepasst. Ich habe mir geschworen, dass ich, wenn ich den Krieg überlebe, nach England zurückkehre und hier meine Mutter und meinen Bruder suche.«
    Das ist wohl nicht der richtige Augenblick, ihm zu erzählen, was meines Wissens mit seiner Mutter passiert ist. Vielleicht erfährt er es ja von Kos, wenn der sich ein bisschen erholt hat.
     
    Im Krankenhaus schwirren lauter Sanitäter und Ärzte um uns herum, und weil Kos meine Hand immer noch nicht loslässt, muss ich wohl oder übel mitgehen. Jak kommt auch mit. Er sagt den Ärzten, dass der Verletzte sein Bruder ist, und sie glauben ihm. Der arme Kos fürchtet sich zu Tode. Wenn er bei Kräften wäre, würde er bestimmt aus dem Fenster springen.
    »Ach du lieber Himmel, wen haben wir denn da?«, fragt der Arzt erstaunt. Er ist um die dreißig und lässt sich ein albernes Ziegenbärtchen stehen, dafür hat er lustige blaue Augen und frisch desinfizierte Hände. Er stellt sich als Dr.   Paul vor.
    »Das ist Kos«, erwidere ich. »Wenn Sie sich mit ihm anfreunden wollen, geben Sie ihm am besten was zu essen.«
    Kos muss erst mit einer Bockwurst aus der Kantine bestochen werden, ehe Dr.   Paul sich sein Bein anschauen darf. Nach der zweiten Wurst darf der Arzt die Wunde |306| desinfizieren, nach der dritten lässt sich Kos verbinden und eine Spritze verpassen. Aber als sich die Ärzte anschließend über Röntgenaufnahmen, Dolmetscher und den Befund
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