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Verderbnis

Titel: Verderbnis
Autoren: Mo Hayder
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gerastert und dann methodisch jeden Zollbreit entlang der Wand des Lagerhauses untersucht, wobei sie Maschinen aus dem Weg räumten, wenn es nötig war.
    In dieser Gegend nannte man die überall in der Gegend verstreuten kleinen Baumgruppen nicht Wäldchen, sondern bezeichnete sie mit dem altmodischen »Covert«, einem Ausdruck aus dem 19. Jahrhundert, der »Dickicht« bedeutete. Das in nächster Nähe auf einer leichten Anhöhe gelegene war als »Pine Covert« bekannt. An diesem Abend, von der untergehenden Sonne in goldenes Licht getaucht und von der Fabrik aus unsichtbar, standen hier zwei Männer im Schutz der Bäume und verfolgten schweigend die Arbeit des Teams: DI Caffery und der, den man den Walking Man nannte.
    »Was glauben Sie, wen sie da suchen?«, fragte der Walking Man. »Nicht meine Tochter. Diese Mühe würden die sich nicht machen, wenn sie dächten, es ist meine Tochter.«
    »Nein. Sie suchen Misty Kitson.«
    »Ah ja. Die Hübsche.«
    »Die Berühmte. Der Mühlstein am Hals meines Dezernats.«
    Den ganzen Nachmittag hatte die Sonne geschienen, aber ohne die Erde zu wärmen, und jetzt ging sie unter. Das Team war mit der Abschlussbesprechung fertig, und die Leute kamen nach und nach durch das Tor der Umzäunung und gingen im Licht der großen Bogenlampen zu den wartenden Trucks und Personenwagen. Caffery und der Walking Man hörten nicht, was sie sagten, aber sie konnten es sich denken.
    »Da ist nichts.« Der Walking Man strich sich versonnen über den Bart. »Sie ist nicht da drin.«
    Caffery stand neben ihm, Schulter an Schulter. »Ich habe getan, was ich konnte.«
    »Das weiß ich. Das haben Sie.«
    Die letzten Männer des Suchteams verließen das Fabrikgelände. Jetzt konnte man gefahrlos ein Feuer entzünden. Der Walking Man wandte sich ab und ging ein paar Schritte weit in den Covert hinein, zu dem kleinen Holzstapel, den er zusammengetragen hatte. Er zog eine Flasche Feuerzeugbenzin unter einem Baumstamm hervor, vergoss es über den Holzscheiten und warf ein brennendes Streichholz darauf. Einen Moment lang war es still, dann loderte mit einem lauten Wuuummp eine orangegelbe Flamme auf, schwoll zu einer dicken Kugel an, rollte hinauf ins Geäst und schoss wie ein feuriger Finger aus rot glühender Hitze und Rauch zwischen den Zweigen in die Höhe. Der Walking Man ging zu einem anderen umgestürzten Baumstamm und wühlte ein paar Sachen darunter hervor – Schlafsäcke, Konserven, den gewohnten Krug Cider.
    Caffery beobachtete ihn aus einigem Abstand und dachte an die Landkarte an der Wand seines Büros. Der Walking Man konnte immer auf solche Vorräte zurückgreifen, ganz gleich, wo er sein Lager aufschlug. Irgendwie war all das – dieses gewaltige Unterfangen, die niemals endende Suche nach seiner Tochter – sorgfältig geplant. Aber wie sollte es auch anders sein? Die Suche nach einem Kind – sie würde nie aufhören. Caffery dachte an Rose und Janice und an den Ausdruck auf ihren Gesichtern, als sie ihre verloren geglaubten Kinder zurückbekamen. Sein eigenes Gesicht würde so vielleicht niemals aussehen. Und das des Walking Man auch nicht.
    »Wir haben den Kindesentführer gefunden. Sie wissen schon, den, der den Brief geschrieben hat.«
    Der Walking Man goss Cider in Plastikbecher und reichte Caffery einen davon. »Ja. Das hab ich Ihnen am Gesicht angesehen, als Sie über das Feld kamen. Aber es war nicht so unkompliziert, wie Sie gehofft hatten.«
    Caffery seufzte. Er blickte über die Felder zu den Wolken, die über der Stadt Tetbury orangegelb schimmerten. Der Sapperton-Tunnel lag hinter der Stadt, draußen in der dunklen Landschaft. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie die beiden Mädchen zum Hubschrauber gebracht wurden. Zwei Tragen, zwei kleine Mädchen. Und zwischen den Tragen eine Brücke. Eine zarte Brücke aus Kinderarmen, erbaut von Martha, die hinüberlangte und Emilys Hand ergriff. Fast vierzig Stunden lang hatten sie zusammen in einem Seesack gesteckt, der in einer Grube im Kanaltunnel vergraben gewesen war. Bei der Untersuchung im Krankenhaus hatte sich herausgestellt, dass ihr Zustand besser war als erwartet. Prody hatte sie nicht angerührt. Martha musste ihre Unterwäsche ausziehen und stattdessen eine Jogginghose seines ältesten Sohnes anziehen. Er hatte ihnen Apfelsaftkartons mit in den Seesack gegeben und ihnen gesagt, er sei von der Polizei, und dies sei eine streng geheime Operation mit dem Zweck, sie vor dem wirklichen Entführer zu verstecken. Denn der
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