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Verderbnis

Titel: Verderbnis
Autoren: Mo Hayder
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Well, wo der uralte Fluss Avon entsprang, senkte das Plateau sich sanft ab. Die fernen Gebäude am Rand von Tetbury zogen sich wie Tupfen über die Flanke der Mulde. Wohnhäuser, Garagen, Industriebauten. Ein Krankenhaus. Der Hubschrauber hatte Flea dorthin gebracht. In den meisten dieser Gebäude brannte Licht, und eins auch in dem Zimmer, in dem sie lag.
    »Und? Ein Punkt zum Stehen oder ein Punkt zum Anfangen?«
    »Sie kennen die Antwort.« Caffery spürte, wie sein Fuß sich langsam vorwärtsbewegte. Eine starke Kraft durchströmte seinen Körper. »Es ist ein Punkt zum Anfangen.«

84
    D er Rauch vom Feuer des Walking Man stieg senkrecht und ruhig in den Nachthimmel. Hoch über die dunklen Bäume hinauf, ohne dass der Wind ihn kräuselte: ein gestreckter grauer Finger am eiskalten Nachthimmel. Man konnte ihn meilenweit sehen: auf den Straßen von Tetbury, auf den Bauernhöfen an den Rändern des Tals, bei den landwirtschaftlichen Gebäuden von Long Newnton und auf den schmalen Landstraßen bei Wor Well. In einem Einzelzimmer im Krankenhaus von Tetbury lag Flea Marley und schlief. Sie war mit einer schweren Gehirnerschütterung, starkem Blutverlust, Hypothermie und Dehydrierung eingeliefert worden. Aber der CT -Befund war klar. Sie würde wieder auf die Beine kommen. Als man sie aus der Notaufnahme heraufgebracht hatte, war Wellard zu Besuch gekommen, mit einem Strauß Lilien in Zellophan und mit einer violetten Schleife. »Ich hab einen Beerdigungsstrauß bestellt. Denn bei Ihrer richtigen Beerdigung, wenn Sie sich aus purer Idiotie umgebracht haben, werde ich nicht in der Kirche sein.« Brummend hatte er sich auf den Plastikstuhl gesetzt und ihr berichtet, was passiert war: dass Prody gestorben sei, dass nicht nur Martha, sondern auch Emily Costello da unten gewesen sei, dass sie beide wohlauf seien und irgendwo hier in diesem Krankenhaus lagen und die Familien ihnen Süßigkeiten und Spielsachen und Glückwunschkarten brachten. Und die Einheit – tja, da gebe es nur Lobeshymnen, und Flea dufte nach Rosen, ja, sie werde regelrecht überschüttet mit Bewunderung, und sie solle sich lieber irgendwo einen sauberen Pyjama besorgen, denn der Chief Constable habe die Absicht, am nächsten Morgen zu Besuch zu kommen, bevor man sie entlassen werde.
    Jetzt träumte sie, und in ihrem Traum befand sie sich zu Hause. Die Gewitterwolken hatten sich verzogen. Thom war nicht da und sie vielleicht erst drei oder vier Jahre alt. Sie saß im Kies vor der Garage und spielte mit der Höhlenlampe. Ihre ungeschickten Kinderfinger versuchten, sie anzuzünden. Die Familienkatze, noch ein Kätzchen, stand neben ihr, die beiden Vorderpfoten nah an Fleas Händen, den Schwanz steil in die Luft gereckt, und verfolgte interessiert, was Flea tat. Ein paar Schritte weiter arbeitete Dad auf dem Rasen; er grub und harkte und säte Grassamen aus. »So.« Er bewässerte die Saat mit einer altmodischen Gießkanne. »So. Alles fertig.«
    Flea stellte die Lampe zur Seite, stand auf, ging zu ihm und schaute auf den Boden. Ein paar der Samenkörner hatten schon angefangen zu sprießen. Kleine, smaragdgrüne Schösslinge. »Dad? Was ist das? Was sehe ich hier?«
    »Deinen Platz. Deinen Platz in der Welt.« Er hob die Hand und lud sie ein, die Aussicht zu betrachten: die Wolken hoch oben im Westen, die Baumreihen, die den Garten begrenzten. Einen Vogelschwarm, der aussah wie eine Pfeilspitze am Himmel. »Dies ist dein Platz, und wenn du hier lange genug wartest, wenn du Geduld hast, wird etwas Gutes zu dir kommen. Wer weiß? Vielleicht ist es schon unterwegs. Vielleicht in diesem Moment.«
    Flea spürte, wie der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Sie hob die molligen Kinderärmchen und breitete sie aus, öffnete sie für den Horizont. Kribbelnde Aufregung stieg in ihr hoch. Sie tat einen Schritt nach vorn, um zu begrüßen, was da kam, öffnete den Mund, um etwas zu sagen – und erwachte plötzlich, nach Luft schnappend, in einem Krankenhausbett.
    Es war still im Zimmer und das Licht gedimmt. Die Vorhänge standen offen, und sie sah ihre eigenen Umrisse undeutlich in der Fensterscheibe. Ein Gesicht, weiß und konturlos. Ein verschwommenes Krankenhaushemd. Dahinter einen wolkenlosen Himmel. Die Sterne, den Mond – und eine dünne, senkrecht aufsteigende Rauchsäule, fast wie ein Bild aus der Bibel.
    Mit schwirrendem Kopf starrte sie den Rauch an und fühlte, wie seine Kraft durch die Scheibe ins Zimmer drang und sich in ihre Brust grub. Sie
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