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Verderbnis

Titel: Verderbnis
Autoren: Mo Hayder
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sie hatte die Hände in den Taschen vergraben und machte ein bekümmertes Gesicht. Nick war es gewesen, die am Steuer von Janices Audi auf der Rückfahrt über die A419 die Autos bemerkt hatte, die ihnen mit hohem Tempo entgegenkamen. Ihre Frontscheiben hatten die Sonne reflektiert, aber sie wusste sofort, dass es nicht gekennzeichnete Polizeiwagen waren und was das bedeutete. Sie hatte in einer Ausweichbucht angehalten, den Audi über zwei Fahrstreifen hinweg gewendet und war mit Vollgas hinter den Polizeiwagen hergefahren. Diesmal hatte niemand versucht, die Frauen aufzuhalten. Anscheinend hatte niemand Zeit dafür.
    »Tragen«, sagte Nick plötzlich. »Zwei Tragen.«
    Janice erstarrte. Sie und Rose reckten die Köpfe, als vier Sanitäter im Laufschritt über die Lichtung kamen. Ihre Gesichter wirkten ausdruckslos und konzentriert, verrieten nichts. »Tragen?« Janices Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. »Nick? Was heißt das? Tragen? Was hat das zu bedeuten?«
    »Keine Ahnung.«
    »Heißt es, dass sie noch leben? Sie würden doch keine Tragen da hineinschicken, wenn sie tot wären. Oder?«
    Nick schwieg und biss sich auf die Unterlippe.
    »Oder, Nick? Oder?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
    »Da gehen noch mehr Sanitäter in den Schacht«, zischte Janice. »Was bedeutet das? Sagen Sie mir, was es bedeutet.«
    »Ich weiß es nicht, Janice – ich schwör’s Ihnen. Bitte machen Sie sich keine Hoffnungen. Vielleicht ist irgendwas mit jemandem von der Suchmannschaft.«
    Die harte Mitte, die Janice aufrechtgehalten hatte, gab plötzlich nach. »O Gott«, flüsterte sie und drehte sich zu Rose um. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Rose, ich kann das nicht.«
    Jetzt war es an Rose, Stärke zu zeigen. Sie schlang den Arm um Janices Taille und fing ihr Gewicht auf, als diese sich schwer an sie lehnte.
    »Es tut mir leid, Rose. Es tut mir leid.«
    »Es ist okay.« Rose stützte sie und legte Janices Arme auf ihre Schultern. Dann lehnte sie die Stirn an die der anderen Frau. »Es ist okay. Ich halte Sie. Sie müssen nur weiteratmen. So ist es gut. Langsam. Weiteratmen.«
    Janice gehorchte, und sie spürte, wie die kalte Luft in die Lunge strömte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie versuchte nicht, sie zurückzuhalten. Nick legte den beiden Frauen die Hände auf den Rücken. »Gott, Janice«, sagte sie leise. »Ich wünschte, ich könnte mehr tun. Mehr für Sie beide.«
    Janice antwortete nicht. Sie konnte Nicks Parfüm riechen und den Geruch ihrer Regenjacke. Sie roch Roses Atem und hörte ihr pumpendes Herz. Dieses Herz, dachte sie, fühlt genauso wie meins. Beide Herzen empfinden den gleichen Schmerz. Roses Pullover war mit Blumen bestickt. Rosen. Rosen für Rose. Auf der Tapete zu Hause in der Russell Road waren Rosen gewesen. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind im Bett gelegen und das Muster fixiert hatte, damit sie einschlafen konnte. Gott sei Dank, dass es dich gibt, Rose, dachte sie.
    Jemand schrie.
    »Okay«, sagte Nick. »Da passiert etwas.«
    Janice riss den Kopf hoch. Die Flaschenzüge hatten sich in Bewegung gesetzt. Caffery stand ungefähr fünfzig Schritte weit entfernt mit dem Rücken zu ihnen. Der Mann mit dem blauen Headset neben ihm hatte die eine Seite des Kopfhörers angehoben. Caffery lehnte sich zu ihm hinüber und hörte mit bei dem, was da gesagt wurde. Alle andern standen an der Schachtmündung und spähten hinunter. Sie zogen etwas herauf, kein Zweifel. Caffery wirkte plötzlich angespannt; Janice sah es sogar von hinten. Es war so weit. Es passierte wirklich. Ihre Hände umklammerten Roses Schultern.
    Caffery rückte von dem Mann mit dem Kopfhörer ab. Er war aschfahl im Gesicht. Nachdem er einen Blick über die Schulter zu den Frauen geworfen hatte, wandte er sich hastig wieder ab, damit sie seinen Gesichtsausdruck nicht sahen. Janice spürte, wie ihr Inneres zerbröckelte und ihre Knie nachgaben. Ein Rauschen erfüllte ihre Brust, als stürzte sie im freien Fall rasend schnell aus dem blauen Himmel. Es war aus. Sie waren tot. Das wusste sie. Caffery nahm sich ein paar Augenblicke Zeit, um seine Krawatte geradezurücken. Er zog sein Jackett zurecht, strich es mit den Händen glatt, atmete tief durch, straffte die Schultern und drehte sich zu ihnen um. Sein Gang war schwerfällig, und als er näher kam, sah Janice, dass die Haut unter seinen Augen grau war.
    »Setzen wir uns.«
    Die drei Frauen nahmen auf einem umgestürzten Baumstamm Platz, während sich Caffery
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