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Verderbnis

Titel: Verderbnis
Autoren: Mo Hayder
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und Menschen, die sich zu ihr umdrehten und lächelten. In Janices Traum trug niemand einen Mantel, niemand zog die Stirn kraus, und niemand musste ihr den Rücken zuwenden, um seinen Gesichtsausdruck vor ihr zu verbergen. In Janices Traum schwebten alle in einem sommerlichen Dunst, und zu ihren Füßen blühten Glockenblumen, als sie hinüberging und Emilys Hand nahm.
    Die schäbige Wirklichkeit vor ihren Augen sah anders aus. Die Lichtung leerte sich allmählich. Die Hubschrauber waren längst verschwunden, die verschiedenen Teams hatten eingepackt, Gurte waren abgeschnallt, Ausrüstungen in den Vans verstaut. Der Einsatzleiter hatte die Namen und Kontaktdetails aller beteiligten Polizisten notiert und sie abrücken lassen. Mitten auf der Lichtung wurde Prodys Leiche auf einer Trage in den Van der Rechtsmedizin geschoben. Ein Arzt ging neben ihm her und hob das Laken hoch, um einen Blick auf Prodys Gesicht zu werfen.
    Janice fror. Sie hatte Krämpfe in den Beinen, weil sie so lange in der Hocke gesessen hatte. Dornen hatten ihr die Strumpfhose zerrissen und Knie und Füße blutig zerkratzt. Die Mädchen befanden sich nicht im Tunnel, Prody war tot, und Caffery und Nick standen ein kleines Stück weit entfernt mit dem Rücken zu ihr und sprachen leise und eindringlich miteinander. Irgendwie fand sie noch die Kraft, nicht einzuknicken, sondern reglos stehen zu bleiben und zu warten, bis sie alles erfuhr.
    Rose dagegen befand sich kurz vor einem Zusammenbruch. Sie ging auf und ab auf dieser von jungen Eschen umgebenen kleinen Lichtung. Ihre Hose war lehmverschmiert und voller Laub und schwarzer Flecken von den vertrockneten Brombeeren, zwischen denen sie gekauert hatten. Sie schüttelte den Kopf und redete in ihr pinkfarbenes Halstuch, das sie mit einer Hand an den Mund presste. Es war seltsam, aber je verrückter sie wirkte, je näher sie dem Kollaps war, desto ruhiger wurde Janice. Als Nick mit unheilvoll gesenktem Kopf über die Lichtung auf sie zuging, blieb Janice abwartend stehen, während Rose sofort anfing, auf sie einzureden, und Nick am Ärmel packte. »Was hat er gesagt? Was passiert jetzt?«
    »Wir tun alles, was wir können. Wir haben mehrere Hinweise. Prodys Frau hat uns ein paar …«
    »Er muss doch irgendetwas gesagt haben.« Rose begann bitterlich zu weinen. Ihre Hände hingen herab, ihr Mund stand offen. »Er muss doch gesagt haben, wo sie sind. Irgendetwas, bitte. Irgendetwas.«
    »Seine Frau hat uns mehrere Hinweise gegeben. Er hatte einen Schlüssel in der Tasche, der aussieht, als gehörte er zu einer Garage. Wir werden sie durchsuchen. Und …«
    » Nein !« Aus heiterem Himmel fing Rose an zu schreien, schrill und abgehackt, sodass sich alle, die noch auf der Lichtung waren, sofort umdrehten. Roses Hände krallten sich verzweifelt in Nicks Jacke. »Durchsuchen Sie den Tunnel noch einmal. Durchsuchen Sie den Tunnel !«
    »Rose! Sschh. Sie haben den Tunnel durchsucht. Er ist leer .«
    Aber Rose wirbelte herum und brüllte die wenigen noch anwesenden Polizisten an, und dabei fuchtelte sie mit den Armen. » Suchen Sie noch einmal! Suchen Sie noch einmal !«
    »Rose, hören Sie doch. Rose !« Nick versuchte, Roses Arme festzuhalten und an den Leib zu drücken. Dabei musste sie sich zurückneigen, um von den wie wahnsinnig wirbelnden Händen nicht getroffen zu werden. »Man kann da nicht noch mal rein – es ist zu gefährlich. Rose! Hören Sie! Man kann nicht mehr hinein – Rose !«
    Rose riss sich, immer noch schreiend, los. Ihre Hände schlugen noch schneller – wie die flatternden Flügel eines verletzten Vogels, der auffliegen will. Sie taumelte ein paar Schritte vorwärts, prallte gegen einen Baum, drehte sich halb, als wollte sie in eine andere Richtung weiterlaufen, drehte sich noch einmal, schien ein wenig zu torkeln, und dann, als hätte sie ein Schuss getroffen, fiel sie zu Boden. Ihr Körper knickte nach vorn, bis ihre Stirn den Boden berührte. Sie riss die Hände hoch und griff sich in den Nacken, als wollte sie ihr Gesicht in die Erde drücken, wiegte sich vor und zurück und heulte laut in die gefrorene Erde.
    Janice ging zu ihr und kniete sich in das Dornengestrüpp. Ihr Herz klopfte wie wild, aber das beherrschte Etwas in ihr wurde größer. Größer und stärker. »Rose.« Sie legte der älteren Frau eine Hand auf den Rücken. »Hören Sie.«
    Als Rose ihre Stimme vernahm, wurde sie still.
    »Hören Sie. Wir müssen weiter. Wir sind hier am falschen Ort, aber es gibt noch
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