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Verbrecher und Versager.

Verbrecher und Versager.

Titel: Verbrecher und Versager.
Autoren: Felicitas Hoppe
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Kind Gast auf Erden, bei Tag Gast in Häusern und nachts Gast im Gasthof, jede Nacht ein anderes Bett, immer die Hand auf der falschen Klinke, den Fuß auf der Schwelle, Hauslehrer hier und Hauslehrer da, erst Haushund, dann Hofhund, dann Kindermädchen, Kammerdiener, Butler, Portier, und immer das Hirn hinterm Mond und den Kopf in den Wolken.
    Aber soll ich mich auf seine Seite schlagen, nur weil er so hoffnungslos ist wie ich und weil ich mich gründlich wieder erkenne beim endlosen Blick in den trüben Spiegel? Denn wie ich ist er nirgends lange geblieben, und was den Töchtern so gut gefiel, das Erfinden von Versen beim Gehen im Garten, Vers an Verse und Reime auf Reim, hat den Müttern wahrscheinlich wenig gefallen, und was die trägen Söhne betrifft, so ist auch die Narbe nur eine Geschichte, die beim zweiten Erzählen schon langweilig wird.
    Und so hat man ihn freundlich am Arm genommen, nach draußen zum Gartentor hm geschoben, eine Hand auf den Augen, die zweite freundlich und deutlich nach Süden, da ist es so heiß, dass selbst Kindsköpfe schrumpfen. Und kommen Sie, bitte!, nie wieder zurück, und schreiben Sie keinen Brief an die Tochter, denn sie weiß noch nicht, wie man Briefe liest, wie leicht man Worte und Verse missdeutet, wie leicht man sich falsche Reime macht auf Sprachen, die nicht zusammenpassen.
    Wachsame Mütter der Welt, wer könnte euch täuschen! Ihr wisst genau, wie man Briefe liest, sich den Reim macht, wie man das Unglück von weitem riecht, das Unglück zwischen Nase und Kinn, ihr riecht es schon durch den Umschlag hindurch, euch macht man nichts vor. Selbst Leonhard Hagebucher, begabtester Briefeschreiber von allen, könnte euch kaum um den Finger wickeln. Wer viel weint, dem streut man schwer Sand in die Augen. Und schon gar nicht der eigenen Mutter, die jeden Morgen am Gartentor steht und Ausschau nach frischen Briefen hält, die verstaut sie dann in der Schürzentasche, um sie später heimlich im Garten zu lesen, aber erst nach dem Essen, wenn der Steuerinspektor schläft und sie endlich allein sein darf mit ihrer Angst.
    Die Regeln beim Lesen von Briefen sind einfach, Frau Hagebucher weiß das genau: Je schöner die Schrift und je dicker der Pinsel, desto tiefer der Abgrund hinter dem Blatt, ein glatter Text und ein bündiger Reim sind immer die Vorboten größeren Unglücks, und je länger die ganze Geschichte wird, umso weiter ist auch der Weg nach Haus. Sie weiß genau, wie man damit verfährt und wie man die Wörter genau übersetzt, um sie zurück ins Deutsche zu bringen.
    Denn wer von Schönheit schreibt, meint die Illusion, «Ich bin überall!» heißt Zuhause das «Nirgends», in dem sich das wandernde Kind verliert. Das «Ich habe zu tun» heißt «Ich weiß nicht, wohin», und «Man ruft mich hin- aus» heißt «Ich kann hier nicht bleiben». Auch wie man die Handschrift vom Text subtrahiert, weiß die Frau Steuerinspektor genau, um am Ende zu einem Ergebnis zu kom- men, das seufzend das Haben ins Soll verschiebt, vom traurigen Hier in ein düsteres Nichts, bis unter dem Strich nicht viel übrig bleibt, nur ein dürftiger Rest aus Zärtlichkeit und Erinnerung und am anderen Ende ein faules Geheimnis, denn sie legt diese Briefe in eine Kiste, von der nur sie selbst weiß, wo man sie findet.
    Manchmal, nachts, steht Frau Hagebucher auf, wenn die betende Stimme des Steuerinspektors im Schlaf so unüberhörbar wird, dass sie es nicht mehr aushalten kann. Dann streckt sie die Hand aus und sucht nach der Kiste und liest sich die letzten Briefe laut vor, um die Angst und die Müdigkeit zu vertreiben und um endlich die eigene Stimme zu hören, denn wer, wenn nicht sie, sagt uns, dass er noch lebt?

    Liebste Mutter, schreibt Leonhard Hagebucher, ich lebe noch und zwar besser denn je, denn es gibt hier jede Hand voll zu tun, und ich bin auf dem Weg, etwas Großes zu werden, nur verrate dem Vater noch nichts davon, er wird es aus anderer Quelle erfahren, lieber Fakt als Verheißung, daran will ich mich halten. Ich bin in Venedig, Kommissionär eines großen Hotels, man wird mich nur ungern ziehen lassen. Doch ich fühle genau, dass ich gehen muss, denn es gibt dort etwas, das auf mich wartet, weiter südlich, wovon sehr bald die Rede sein wird, ich werde in aller Munde sein. Also packe ich heute noch meine Koffer. Und du küsst mir die Schwester, und die Schwester soll alle Cousinen küssen, und grüß mir auch alle Tanten und Onkel, und dem Vater sagst du, ich begleiche die
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