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Verbrecher und Versager.

Verbrecher und Versager.

Titel: Verbrecher und Versager.
Autoren: Felicitas Hoppe
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das dich von hier nach Europa bringt.
    Ich weiß nicht, wie oft der Onkel das spielte, dieselbe Rolle, denselben Film, der niemals wirklich derselbe war und niemals wirklich ein richtiger Film, denn immer ging es um Leben und Tod. Wie oft hat er fremde Soldaten bestochen? Und wie oft hat man ihn trotzdem erkannt, wenn er sich unter Deck versteckte, aus Angst vor englischen Passkontrolleuren, halb tot, halb lebendig, die Hände schweißnass, und den Kopf schon so gut wie im Rachen des Löwen, über den er längst keine Herrschaft mehr hat. Selbst wenn er sich nur noch erinnern muss, schließt er seine Augen ganz fest, als wollte er das nicht noch einmal erleben.

    Und wie hat man ihn Zuhause empfangen? Ist das wirklich ein Sohn der Familie, dieser Mann ohne Schnurrbart und Tropenhelm, der eine belgische Uniform trägt und über den man sich gerne erzählt, er sei schon seit Jahren nicht mehr am Leben? Denn seit der Onkel Kostüme trägt, gehen hier wilde Gerüchte um, der Onkel sei überhaupt nicht der Onkel, nur ein Flüchtling, der den Onkel nur spielt, der Onkel selbst sei verloren gegangen, irgendwo in den Tiefen des Urwalds, dort hätten ihn die Kannibalen gefressen.
    Ob Onkel Carl trotzdem am Hafen stand, um den verlorenen Sohn zu begrüßen? Und hat man womöglich das Schwein geschlachtet, das ratlos in seinem Käfig stand, weil es niemand mehr besichtigen wollte? Überall auf der Welt herrscht Krieg, und längst ist man dazu übergegangen, Tiere zu essen, anstatt sie zu füttern. Aber der Zoo ist trotzdem noch da, sogar der Zirkus geht noch auf Reisen, weil im Krieg Unterhaltung doppelt zählt, auch wenn die Tiere jetzt träger werden und unlustiger durch die Reifen springen, weil es so wenig zu fressen gibt.
    Aber irgendwann geht jeder Krieg zu Ende. Die erste Hälfte vergeht im Zoo, zwischen den Tieren, halb schlafend, halb fütternd, bis den Onkel die Gitter so heftig bedrücken, dass er schließlich die Koffer packt, um von Hamburg aus nach Berlin zu reisen. Ein plötzlicher Anruf, das Auswärtige Amt, wie der Onkel später gerne erzählt. Nur was hatte er in diesem Amt verloren? Trug er dort Akten von Zimmer zu Zimmer? Holte er Briefe aus seinem Rucksack und versuchte, von vorn ein Spion zu werden? Geschichten, die niemand hören will, also tut der Onkel, was jeder tut, der nicht weiß, wohin mit seinen Geschichten, er kauft sich ein Kino. Ein Haus, in dem es so warm ist und dunkel, dass wir, eng aneinander geschmiegt, die Wirklichkeit endlich vergessen dürfen.
    Auch ins Kino sind wir nur heimlich gegangen, mein
    Bruder, meine Schwester und ich. Wir haben alle Filme gesehen, wir kennen das Gesamtwerk des Onkels, auch wenn wir darüber nicht sprechen dürfen. Aber alles ist uns ans Herz gewachsen, Der Schädel der Pharaonentochter, das Welträtsel Mensch und der Herr der Bestien, auch Darwin kennen wir ganz genau, Veritas Vincit, sogar die Schreckensnacht in der Menagerie, als der große Dompteur seine Herrschaft verlor und in Panik mit Fleischbrocken um sich warf, und das Fleisch fiel Onkel John vor die Füße, der als Regisseur in der anderen Ecke stand.
    Unser allererster Arenenbeherrscher. Der Löwe kniet hin und legt sich nieder, dann erhebt er sich und reißt das Maul auf, woher der Befehl kommt, bleibt mein Geheimnis. Ich schließe die Augen, ich zähle bis drei, meine Hände sind nass, denn ich weiß, der Löwe ist immer noch da, aber wenn ich entschlossen die Augen öffne, sehe ich, wie der Onkel lacht, weil sein Kopf noch so fest auf den Schultern sitzt. Er kennt die Tiere, und sie kennen ihn, und sie kennen den Rohrstock im Rücken genau, mit dem man die größte Gefahr dirigiert.

    Die größte Gefahr ist aber woanders. Das hätte der Onkel wissen müssen. Denn es sind nicht die Zähne, es ist nicht das Maul, es ist nicht das Fauchen. Als vor Jahren einmal im Zoo von Dresden der Patagonier ein Pferd bestieg und deutlich sagte: Ich reite nach Hause, hätte der Onkel begreifen müssen, was das Heimweh in Wirklichkeit ist, die schlimmste und tückischste Krankheit von allen. Denn über das Meer kommt keiner zu Fuß, sogar mein Vater hat das begriffen, er weiß genau, wie gefährlich es ist, nach Feierabend auf Reisen zu gehen.
    Aber der Onkel will nichts von Büchern wissen, auch das Kino interessiert ihn nicht mehr, denn er hat das Paradies längst gesehen. Er braucht jetzt nur noch ein Schiff zu besteigen, um ein zweites Mal nach Ceylon zu fahren, wo er noch einmal von vorne beginnt. Also
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