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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung
Autoren: Nicolas Remin
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immer vermieden hatte, sich wirklich Rechenschaft darüber abzulegen, aus welchen Gründen er jeden Tag in die questura ging. Natürlich – da war das Geld, ohne das sie nicht über die Runden kamen.
    Das war ein Motiv, über das er nicht lange nachdenken  musste. Und dass seine Arbeit auf der questura ihm dabei half, nicht den Kontakt zur Wirklichkeit zu verlieren, traf ebenfalls zu. Aber die Principessa hatte Recht. Das war nicht alles.
    Er wandte den Kopf zur Seite und blickte aus dem Fenster. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, aber er fiel immer noch so heftig vom Himmel, dass die Häuser auf der anderen Seite des Canalazzo in einem grauen Dunst verschwanden.
    Tron sagte: «Es ist das Gefühl, etwas zu tun, dessen Wert nicht in Geld auszudrücken ist. Mich erschreckt die Vorstellung, den Palazzo Tron zu verkaufen, weniger als die Vorstellung, mich selber zu verkaufen.»
    «Ist das auch ein Grund, aus dem du mich nicht zur Heirat drängst? Weil du das Gefühl hast, ich würde mir mit meinem Geld neben den Tiepolos und Piazzettas auch einen Tron zulegen wollen?»
    «Das wäre dünkelhaft und arrogant.»

    «Genau das wäre es. Aber eine Spur von Dünkel und  Arroganz hast du, Tron. Nicht viel, aber eine Spur.»
    «Vielleicht.»
    Die Principessa lächelte. «Gib es zu.»
    «Meinetwegen.» Tron erhob sich, umrundete den Tisch  und beugte sich zu einem Kuss herab.
    «Du musst gehen?»
    Tron nickte. «Wir essen um eins. Alessandro hasst es,  wenn ich unpünktlich bin.»
    Sie sah ihm nach, wie er den Salon verließ und sich auf der Schwelle noch einmal lächelnd zu ihr umdrehte – ein schmaler, unauffällig wirkender Mann in einem schäbigen Gehpelz, der einen abgegriffenen Zylinderhut in der Hand hielt.
    Als Trons Schritte im Vestibül zu hören waren, erhob  sich die Principessa von ihrer Récamiere und ging zu dem kleinen Tischchen, auf dem der äthiopische Diener die Post deponiert hatte. Sie fand den Brief sofort, denn die Handschrift war unübersehbar. Beim flüchtigen Durchsehen des Stapels hatte ihr Herz vorhin einen Schlag lang ausgesetzt, aber Tron schien es nicht bemerkt zu haben.
    Sie ging zu einem Konsoltisch, über dem ein riesiger  Piazzetta hing, schenkte sich einen Cognac ein und kippte das Glas in einem Zug hinunter. Dann ließ sie sich wieder auf der Récamiere nieder und erbrach das Siegel. Sie hasste sich dafür, dass ihre Hände zitterten, als sie den Brief aufriss.
    Der Brief bestand aus wenigen Zeilen und war in dem  leicht ironischen Ton geschrieben, den er auch im Gespräch anschlug – ein Ton, der sie früher oft irritiert hatte.
    Er teilte ihr mit, dass er sich seit zwei Tagen in Venedig aufhielt. Er bedauerte, dass er keine Gelegenheit gehabt hatte, sie vorab von seinem Kommen zu unterrichten, aber  er entschuldigte sich nicht dafür. Und er bat sie darum, ihn noch heute aufzusuchen. Als Adresse war ein Haus am Rio Madonna dell’Orto in Cannaregio angegeben.
    Einen Augenblick verschwammen die Worte vor ihren  Augen wie Gestalten, die man durch ein regengepeitschtes Fenster sieht. Sie musste daran denken, wie sie ihm, ebenso überraschend, wie sie jetzt sein Brief erreichte, in Paris im Salon der Herzogin von Berry begegnet war – ein Gespenst aus einer Vergangenheit, von der sie geglaubt hatte, sie längst hinter sich gelassen zu haben.  Die Principessa stand auf, ließ den Brief zu Boden flattern und trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, und eine unerwartete Helligkeit ließ die Goldfäden in den Brokatvorhängen aufschimmern. Von der Dogana her kam ein sandalo, bewegte sich langsam den Canalazzo herauf, und sie sah, wie der Mann an den Rudern gegen die Kälte und die Feuchtigkeit ankämpfte.
    Sie ging zurück und betätigte den Klingelzug, der über  ihrer Récamiere an der Wand befestigt war. Als der Diener eintrat, gab ihr der Klang ihrer eigenen Stimme ihre Sicherheit zurück.
    «Sag Antonio, dass er meine Gondel fertig machen soll –  sofort.»

4

    «Wir könnten den Agnellis zum Jahresende kündigen. Dann wäre die oberste Etage frei», sagte die Contessa Tron.
    Sie ließ diese Feststellung so in der Luft schweben wie  die Kaffeetasse, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Mit ihren grauen Haaren und ihrem fließenden, cremefarbenen Kleid, das ihre natürliche Eleganz unterstrich, wirkte sie ausgesprochen distinguiert.  Genauso distinguiert, dachte Tron, wie die sala degli arazzi, das Gobelinzimmer des Palazzo Tron, in dem seine Mutter gerne
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