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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung
Autoren: Nicolas Remin
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aufgeregter und schnatternder Opernbesucher verwandelt. Alle rannten durcheinander, schrien Namen und Befehle, verloren sich in der nebligen Dunkelheit, fanden sich wieder und bildeten ein Gewirr von Blendlaternen und Fackeln, deren Lichter die Colliers der Damen aufblitzen ließen wie Münzen in einer Pfütze.
    Das Mädchen löste sich von seiner Position und setzte  sich in Bewegung. Sie durchquerte den Campo mehrmals  in verschiedenen Richtungen, und ein paar Minuten später hatte sie eine geeignete Person entdeckt: einen Mann in einem karierten Mantel, vermutlich ein wohlhabender Fremder, der zwei Schritte von ihr entfernt einem der albernen Mädchen ein Strohblumensträußchen abkaufte.
    Nachdem er seine Börse in der rechten Manteltasche verstaut hatte, nahm er die Blendlaterne, die er vor seinen Fü ßen abgestellt hatte, wieder auf und bog langsam in die Calle della Fenice ein, mit zögernden, unsicheren Schritten, so als würde er sich auf Glatteis bewegen.
    Das Mädchen folgte ihm vorsichtig, wobei es drei  Schritte Abstand hielt. Dann schloss sie lautlos zu ihm auf.
    Sie grinste, als ihre Finger, zart wie Schmetterlingsflügel, in seine rechte Manteltasche glitten und die Börse herauszogen.
    Später sagte sie sich, dass es eine Scherbe gewesen sein musste, auf die sie getreten war – eine Glasscherbe, die durch die dünne Sohle ihres rechten Leinenschuhs schnitt und sich in ihren Fuß bohrte.
    Sie stieß einen Schrei aus, versuchte zu spät, ihr Gewicht auf das andere Bein zu verlagern, und fiel schmerzhaft auf die Knie. Zu allem Überfluss bogen in diesem Moment zwei Carabinieri in die Calle della Fenice ein. Als ihre Helme und ihre schräg über die Brust laufenden weißen Lederriemen aus dem Nebel auftauchten, ging plötzlich  alles sehr schnell – zugleich aber kam es ihr langsam vor, fast wie die Serie von graubraunen Daguerreotypien, die sie gestern im Schaufenster eines Photographen an der Piazza gesehen hatte.
    Sie öffnete den Metallverschluss der Börse in ihrer Hand und drehte die Börse um, sodass die Münzen auf das nasse Pflaster fielen. Ihre Fingernägel schrammten über die Faust  des Mannes, der fluchend ihre Haare gepackt hatte, und  gruben sich, wie die Krallen einer wütenden Katze, tief in seine Haut. Dabei kam sie keuchend auf die Füße, duckte sich unter dem Arm des Mannes weg und machte einen Satz in den Nebel hinein.
    Hätten die beiden Carabinieri dem Fremden dabei ge holfen, den Inhalt seiner Börse aufzuheben, wäre sie ihnen trotz der Verletzung mit Leichtigkeit entkommen. Doch stattdessen machten sie sich sofort an ihre Verfolgung, und durch ihren keuchenden Atem hindurch hörte sie die Stiefel der Männer wie Pferdegetrappel auf dem Pflaster.
    Nach einem Sprint von dreihundert Metern bog sie  zweimal nach links und einmal nach rechts ab, und obwohl sie diesen Teil Venedigs gut kannte, verlor sie in der Dunkelheit und im Nebel die Orientierung. Plötzlich beschrieb die Gasse eine scharfe Linkskurve, und als sie um die Ecke bog, sah sie den sottoportego, einen Durchgang, schwarz wie ein Minenschacht, der zu anderen Gassen führen konnte oder aber, wenn sie Pech hatte, einfach auf einen Hof. Ohne nachzudenken, lief sie hinein und presste sich gegen die Wand. Gleich darauf hörte sie das Getrappel der Carabinieri um die Ecke biegen und registrierte mit Erleichterung, dass sie an dem sottoportego vorbeiliefen. Ihr verletzter Fuß brannte wie Feuer. Kurz bevor ihre Beine unter ihr nachgaben, ging sie in die Hocke. Sie würde ein wenig warten, um ganz sicher zu sein, dass die Männer nicht mehr in der Nähe waren, und dann nach Hause gehen. Sie war jetzt völlig erschöpft und konnte sich kaum noch bewegen. Ihr Mund fühlte sich steif an, mehr aus Angst als vor Kälte. Aus ihrer Nase tropfte Rotz und sammelte sich auf ihrer Oberlippe. Auf einmal kamen ihr mit überraschender Heftigkeit die Tränen, und sie versuchte gar nicht erst, sie zurückzuhalten.

    Fünf Minuten später, als ihr rasender Puls sich ein wenig beruhigt hatte, stemmte sie sich an der Wand hoch – und hörte im selben Moment, wie die Schritte der Carabinieri sich wieder näherten. Der Takt, den die Absätze auf das Pflaster klopften, wurde lauter und lauter – gleich würden sie den sottoportego erreicht haben. Also ignorierte sie den Schmerz in ihrem Fuß und humpelte hastig dem schwachen Lichtschein auf der anderen Seite des Durchgangs entgegen.
    Normalerweise hätte er den sandalo sorgfaltig
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