Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
verwandelte, dass es ihr gelungen war zu entkommen. Als sie kurz davor war, in albernes Kichern auszubrechen, hörte sie hinter sich ein Klirren und wirbelte herum.  Drei Schritte von ihr entfernt auf dem Fußboden hockte  ein Mann. Da das Licht der Petroleumlampe von hinten auf  ihn fiel, lag sein Gesicht im Schatten. Aber der Schatten erstreckte sich nicht so weit, dass man die Frau hätte übersehen können, die vor ihm auf dem Rücken lag. Ihr Gesicht war im Schein der Lampe gut zu erkennen. Sie hatte ihren Kopf ein wenig zur Seite geneigt, und das Mädchen konnte ihre Augen sehen, die aufmerksam an die Decke starrten, obwohl klar war, dass sie nichts sahen und auch nie wieder etwas sehen würden. Der Mund der Frau war weit aufgerissen, wie ein sperrangelweit geöffnetes Tor, und ihr Gesicht drückte noch im Tod grenzenloses Erschrecken aus.
    Sie machte unwillkürlich einen Schritt zurück, stieß hart an die Tür, schrie aber nicht.  Vermutlich, dachte sie später, war es das, was ihr das Leben rettete. Ihr Schweigen brachte ihn aus dem Konzept.
    Er wandte nur kurz den Kopf nach links, hob etwas Metallisches vom Fußboden und schob es in seinen Gürtel. Ganz kurz sah sie dabei sein Gesicht – ein hageres Gesicht mit auffälligen, buschigen Augenbrauen.
    Dann stand der Mann auf und schlug seinen Mantel zu.  Sie konnte seine Augen nicht erkennen, aber als er den  Zeigefinger seiner rechten Hand auf seine Lippen legte, spürte sie, dass er sie fragend ansah. Sie nickte mechanisch, und für die Dauer eines Lidschlages hatte sie das Gefühl, als sei etwas Fremdes in sie eingedrungen – nicht in ihren Körper, aber in ihren Verstand. Er steuerte hinkend auf die Tür zu, und sie wich zur Seite. Als er an ihr vorbeikam, hob er den Arm. Ob diese Geste sein Gesicht verdecken oder aber einen zynischen Gruß bedeutet sollte, blieb offen.

    Eine Stunde später – inzwischen war es kurz nach Mitternacht – stand sie auf der Riva degli Schiavoni und sah zu,  wie die Erzherzog Sigmund, die neun Stunden später in Triest eintreffen würde, sich langsam vom Kai löste und ihren Bug schwerfällig zum offenen Wasser hin schwenkte.  Die Bewegung der riesigen Schaufelräder wurde schneller, schaumige Wirbel bildeten sich an beiden Seiten des Schiffes, und die Petroleumlampen am Heck setzten funkelnde Lichter auf die Schleppe aus weißem Wasser, die der Raddampfer hinter sich herzog.
    Dass sie den hinkenden Mann vom Rio della Verona  vor ein paar Minuten noch einmal gesehen hatte, war erst in ihr Bewusstsein gedrungen, als der Bursche bereits das Deck der Erzherzog Sigmund betreten hatte – als letzter Passagier, denn unmittelbar danach begann das Ablegemanöver des Dampfers. Ihr Schock war umso größer, als sie sich, seit sie die Wohnung am Rio della Verona verlassen hatte, immer wieder dieselbe Frage gestellt hatte: War dies alles tatsächlich geschehen, oder hatte es sich lediglich um einen üblen, wenn auch äußerst realistischen Traum gehandelt?
    Auf dem Weg zur Piazza San Marco war ihr Verstand (oder das, was noch von ihm übrig war) zwischen diesen beiden Möglichkeiten hin- und hergependelt wie eine Kompassnadel in einer Landschaft, in der es zu viele Mineralvorkommen gibt. Und vermutlich, dachte sie, hatte die Nadel, als sie den hinkenden Mann auf der Gangway entdeckte, gerade in Richtung Traum gezeigt.
    Jedenfalls hatte der Bursche kein Gepäck bei sich gehabt.
    Das konnte bedeuten, dass er in Venedig zu Hause war und lediglich für einen kurzen Besuch nach Triest fuhr – also zurückkommen würde. Dann könnte es gefährlich sein, ihm wieder zu begegnen. Allerdings war auch denkbar, dass es sich bei dem Mann um einen Fremden handelte, dessen Gepäck bereits vorher auf die Erzherzog Sigmund gebracht  worden war. Schließlich hatte er etwas anderes zu tun gehabt, als sich persönlich um seine Koffer zu kümmern.
    Richtig?
    Die Erzherzog Sigmund, deren Lichter jetzt langsam im nächtlichen Dunst verschwanden, ließ kurz ihr Nebelhorn ertönen und scheuchte ein halbes Dutzend Möwen auf, die sich auf dem Geländer des Anlegers niedergelassen hatten.
    Die Möwen flogen alle im selben Moment auf, und ihre  Schwingen flatterten wie Laken auf der Wäscheleine. Ein Windstoß wehte ihr Haar zurück, und sie konnte den bevorstehenden Regen in der Luft riechen.
    Sie drehte sich langsam um und spürte auf einmal, wie  sich ihre Finger immer noch um den kleinen Gegenstand  krampften, den sie in der Wohnung aufgehoben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher