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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie
Autoren: Andrew Nicoll
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    Dieser Tage kommen nicht mehr viele Besucher nach Dot. Es gibt einfach keinen Grund, so weit ins nördliche Baltikum hinaufzusegeln, schon gar nicht in die flachen Gewässer nahe der Mündung des Flusses Ampersand. Dort vor der Küste liegen unzählige kleine Inseln, von denen manche sich nur bei Ebbe zeigen und andere sich mit der Launenhaftigkeit einer italienischen Regierung gelegentlich für ein Weilchen mit ihren Nachbarinnen zusammenschließen, sodass die Kartographen vierer Nationen es schon vor langer Zeit aufgegeben haben, eine gültige Seekarte der Gegend erstellen zu wollen. Zwar hat Katharina die Große einmal eine Gruppe von Landvermessern hingeschickt, die das Haus des Hafenmeisters von Dot requirierten und sieben Jahre dort lebten, Karten zeichneten, verwarfen und aufs Neue zeichneten, aber schlussendlich reisten sie mit halbfertigem Kartenmaterial empört wieder ab.
    «Ce n’est pas une mer, c’est un potage» , sagte der Oberlandvermesser denkwürdigerweise beim Abschied, auch wenn niemand in Dot ihn verstand. Anders als der russische Adel pflegten die Einwohner von Dot sich nicht auf Französisch zu verständigen. Russisch sprachen sie auch nicht. Denn entgegen anderslautenden Forderungen der Zarin Katharina zählten die Einwohner von Dot sich nicht zu den Russen. Nicht zu jener Zeit. Zu jener Zeit hätten die Männer von Dot sich, wäre man auf die Idee gekommen, sie danach zu fragen, vielleicht als Finnen oder Schweden bezeichnet. Zu anderen Zeiten hätten sie vielleicht zum weit
entlegenen Dänemark hinübergenickt, oder sogar nach Preußen. Einige wenige hätten sich vielleicht für Polen oder Letten gehalten, aber die meisten wären einfach nur stolz gewesen, Männer von Dot zu sein.
    Graf Gromyko klopfte sich den Dreck von den Stiefeln und bestieg sein Schiff, um heim nach Sankt Petersburg zu segeln, wo er zuversichtlich seinem neuen Amt als oberster Pferdewinscher Ihrer Kaiserlichen Majestät entgegenblickte. Aber daraus sollte nichts werden, denn noch in derselben Nacht kollidierte sein Schiff mit einer auf keiner Seekarte verzeichneten Insel, die sich unhöflicherweise vor Dots Küste aus dem Meer erhoben hatte, und versank wie ein Stein. So kam es, dass die Admiräle der Zarin Katharina mit einem weißen Fleck auf ihren Seekarten vorliebnehmen mussten. Da sie jedoch zu gebildet waren, um die Leerstelle mit einem «Vorsicht, Drache!» zu füllen, trugen sie stattdessen die Warnung «Flache und faulige Wasser, nicht schiffbar» ein – und beließen es dabei.
    Die Männer von Dot hingegen brauchten keine Seekarten, um die Inseln, die schützend vor dem Hafen der Stadt lagen, zu umschiffen. Wenn sie den Archipel durchquerten, verließen sie sich auf ihren Geruchssinn, sie orientierten sich an der Farbe des Meeres oder am Wellenschema, am Rhythmus der Strömung oder an der Lage jenes Strudels oder dieses Stillwassers, bisweilen auch an der Beschaffenheit der Brecher beim Gezeitenwechsel. Souverän verließen die Männer von Dot vor siebenhundert Jahren den Hafen, um die Hanse mit Tierhäuten und Stockfisch zu versorgen, souverän kehrten sie gestern mit Zigaretten und Wodka (wovon ja niemand etwas erfahren muss) zurück.
     
    Der Bürgermeister von Dot, Tibo Krovic, liebte es, Bürgermeister zu sein. Es gefiel ihm, wenn die jungen Leute zu ihm kamen, um sich trauen zu lassen. Gern besuchte er die Schulen von Dot und bat die Kinder, ihm bei der Gestaltung der offiziellen Weihnachtskarten zu helfen. Er mochte die Menschen. Er mochte es, ihre kleinen Probleme zu lösen und bei nichtigen Streitereien zu schlichten. Er liebte es, hochrangige Gäste in seiner Stadt willkommen zu heißen.
    Er liebte es, den Ratssaal im Gefolge des Haushofmeisters zu betreten, der das große Silberzepter mit dem Bild der heiligen Walpurnia trug – Sankt Walpurnia, die bärtige Märtyrerjungfrau, deren herzerweichendes Flehen um Hässlichkeit als Schutzpolster für ihre Keuschheit von Gott mit wundersamer Großzügigkeit erhört worden war. Sankt Walpurnia, die vom Himmel doppelt Beschenkte – erstens mit einem monströs üppigen Bart und zweitens mit einem katastrophalen Warzenbefall, der ihren gesamten Körper bedeckte und den sie – in ihrem fortdauernden Bemühen, die Männer von Dot von der Sünde zu bekehren – beständig zur Schau stellte. Sankt Walpurnia, die sich vor den Toren Dots den marodierenden Hunnen angeboten hatte unter der Voraussetzung, die übrigen Frauen der Stadt mögen verschont
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