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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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runter, und ich dachte, egal, ob man ein Promi ist oder ein gesuchter Krimineller, zu viel Aufmerksamkeit macht einen paranoid. Sie beugte sich vor und erklärte feierlich: »Natürlich, Jasper, du bekommst alles, was du willst.«
    »Tatsächlich?«
    »Unter einer Bedingung.«
    »O-oh.«
    »Du musst mir bei etwas helfen.« »Nein.«
    »Du wirst über große Macht verfügen.«
    »Macht? Igitt.«
    »Bitte.«
    »Hör zu. Ich will wirklich bloß raus aus diesem Land und den Rest meines Lebens als Namenloser durch die Welt treiben. Ich will dir nicht bei irgendwas helfen - wobei soll ich dir überhaupt helfen?«
    »Bei den Medien.«
    »Welchen Medien?«
    »Allen.«
    »Ich reise nach Europa. Ich will nicht in irgendeinem Büro hocken.«
    »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, wenn du also...«
    »Ich weiß, in welchem Jahrhundert wir leben. Warum sagen mir die Leute ständig, in welchem Jahrhundert wir leben?«
    »...wenn du also in Bewegung bleiben willst, kannst du das ruhig. Du kriegst einen Laptop, einen Assistenten, ein Handy. Du kannst alles von unterwegs aus erledigen. Bitte, Jasper. Ich traue sonst niemandem. Du hast noch nie so viele Leute gesehen, die so unverhohlen so schamlos viel haben wollen. Die halten alle die Hände auf, meine alten Freunde eingeschlossen. Und keiner wird mir seine ehrliche Meinung sagen. Du bist der Einzige, auf den ich zählen kann. Und abgesehen davon, glaube ich, dass dein Vater dich dein ganzes Leben lang auf so was wie das hier vorbereitet hat. Vielleicht genau darauf. Vielleicht wusste er alles im Voraus. Das kommt einem wie Bestimmung vor, findest du nicht? Du und ich, wir sind die absolut falschesten Leute für so eine Position - das ist ja das Grandiose daran.«
    »Das ist verrückt, Anouk. Ich versteh nicht die Bohne vom Zeitungsmachen oder vom Fernsehen!«
    »Und ich versteh nicht die Bohne vom Medienmogulwesen, und trotzdem, jetzt bin ich einer! Wie ist das möglich, dass ausgerechnet ich in diese Position geraten bin? Und warum nur? Ich hab mich nicht darum gerissen, es ist mir in den Schoß gefallen. Ich hab einfach das Gefühl, ich muss etwas tun.«
    »Was zum Beispiel?«
    Sie machte ein sehr entschlossenes und ernstes Gesicht, so eines, das einen vom bloßen Hinsehen selber entschlossen und hart gucken lässt.
    »Jasper, ich glaube daran, dass alles Leben auf Liebe basiert. Und dass die Liebe das Fundamentalgesetz des Universums ist.«
    »Welches Universum ist das, und wo liegt es? Da würde ich gern mal reinschauen und Hallo sagen.«
    Anouk setzte sich auf die Kante eines leeren Bierfasses. Sie verströmte pure Energie und Begeisterung. Mochte sie auch noch so tun, als finde sie die seltsame Wendung der Ereignisse, die sie zu einer reichen und einflussreichen Frau gemacht hatten, entsetzlich, ich nahm ihr das nicht ab.
    »Ich glaube, dass aus den Gedanken eines Menschen oft reale Ereignisse werden - dass wir Dinge kraft unserer Gedanken existent werden lassen. Verstehst du? Gut, nun überleg Folgendes: Eine der Krankheiten, die sich im Westen zur Seuche ausgeweitet haben, ist die Sucht nach Neuigkeiten. Zeitungen, Internetnachrichten, Nachrichtensendungen rund um die Uhr. Aber was sind Nachrichten? Nachrichten sind Geschichte im Werden. Die Sucht nach Nachrichten ist also die Sucht nach Ereignissen, die zu Geschichte werden. Stimmst du mir so weit zu?« »Schon kapiert. Red weiter.«
    »In den letzten Jahrzehnten hat man Nachrichten als Unterhaltung produziert. Die Abhängigkeit der Leute von Nachrichten ist also die Abhängigkeit von deren Unterhaltungscharakter. Wenn man die Macht des Gedankens nun mit dieser Abhängigkeit von unterhaltsamen Nachrichten kombiniert, dann muss man feststellen, dass diejenigen aus dem Millionenpublikum, die sich Frieden auf Erden wünschen, es bei Weitem nicht aufnehmen können mit denen, die bloß gespannt sind auf das nächste Kapitel der Geschichte. Jeder Mensch, der die Nachrichten einschaltet und feststellt, es gibt nichts Neues, ist enttäuscht. Die Leute schauen zwei- oder dreimal am Tag Nachrichten - sie wollen Dramen, und Drama bedeutet nicht nur Tod, sondern den Tod von Tausenden. Also wünscht sich im Geheimen jeder Nachrichtenjunkie immer größere Katastrophen, noch mehr Leichen, weitere spektakuläre Kriege, noch mehr scheußliche Attentate, und diese Wünsche werden jeden Tag hinaus in die Welt geschickt. Siehst du das nicht? Heute, mehr als zu jeder anderen Zeit in der Geschichte, ist der globale Wunsch
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