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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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begeben, um mehr über dieses Gesicht in Erfahrung zu bringen? Und über meine Mutter? Und über mich selbst?
     
    Dad behauptete immer, dass die Menschen im Leben gar nicht auf Entdeckungsreise gingen, gar keine Entwicklung durchmachten, sondern die gesamte Zeit damit verbrachten, Beweise für Überzeugungen zusammenzutragen, die sie ohnehin von Anfang an hegten. Sicher, sie gewinnen neue Erkenntnisse, aber die erschüttern ihr innerstes Glaubensgefüge nicht wirklich - sie bauen nur darauf auf. Er war der Ansicht, wenn die Basis unversehrt bleibt, ist es völlig egal, was man darauf aufbaut - eine Entwicklung sei es nicht, lediglich ein Aufeinanderschichten. Er glaubte nicht, dass jemals jemand bei null anfing. »Die Menschen suchen nicht nach Antworten«, sagte er oft, »sie suchen nur nach Beweisen dafür, dass sie recht haben.«
     
    Dies veranlasste mich dazu, über seine Lebensreise nachzudenken. Was hatte sie ihm gebracht? Er mochte zwar die ganze Welt bereist haben, weit gekommen war er aber anscheinend nicht. Er mochte sich den unterschiedlichsten Erfahrungen gestellt haben, aber seine Vorstellungen waren immer die gleichen geblieben. All seine Pläne, Ideen und Machenschaften beschäftigten sich mit dem Menschen und seinem Verhältnis zur Gesellschaft oder - weiter gefasst - zur Zivilisation oder - enger - zum unmittelbaren Umfeld. Er strebte danach, die Welt um sich herum zu verändern, aber sich selbst betrachtete er als etwas Statisches, Unveränderliches. Es interessierte ihn nicht, die eigenen Grenzen auszutesten. Wie weit kann man aus sich herausgehen? Kann man den eigenen Wesenskern finden und vergrößern? Kann das Herz eine Erektion bekommen? Kann einem die Seele aus dem Mund strömen? Können Gedanken ein Auto bewegen? So etwas schien ihn kaum beschäftigt zu haben.
    Nun endlich wusste ich, wie ich gegen die Lebensweise meines Vaters revoltieren konnte! Mir war klar, wie meine Anarchie aussehen würde. So wie Terry würde ich jeden Tag leben, als wäre es der letzte, mochte die Welt weiterbestehen oder untergehen. Kultur? Gesellschaft? Was soll's? Ich würde dem Fortschritt den Rücken kehren und mich, anders als mein Vater, nicht auf das Äußere konzentrieren, sondern auf das Innere.
    Um zum Kern meines Selbst zu gelangen. Zum Grunde des Denkens. Über die Grenzen der Zeit hinaus. Wie wir alle bin auch ich durchdrungen von Zeit, ich bin durchtränkt davon, ich ersaufe darin. Wenn ich diesen tief verwurzelten, allumfassenden psychologischen Trick außer Kraft zu setzen vermochte, hätte ich einen richtigen Trumpf in der Hand.
    Im thailändischen Dschungel war es mir gelungen, Dad meine Gedanken zu übermitteln, auch wenn er nicht daran hatte glauben wollen. Gedankenmanipulation funktioniert also tatsächlich. Viele Mediziner geben zu, dass Kummer, Stress und Trauer das Immunsystem schädigen, genauso wie Einsamkeit. Einsamkeit treibt durch Herzerkrankungen, Krebs und Selbstmord die Sterberate in die Höhe und ist sogar am zufälligen Tod beteiligt, denn einsam sein, kann einen sehr linkisch machen. Wenn Sie länger als drei Tage einsam sind, ist ein Arztbesuch angeraten.
    Wir geben uns ahnungslos negativen Gedanken hin und wissen nicht, dass der Gedanke »Ich bin Scheiße« wahrscheinlich genauso karzinogen ist, als würde man eine Stange Camel Ohne wegqualmen. Aber was dann? Soll ich mich mit irgendeinem Apparat ausstaffieren, der mir bei jedem negativen Gedanken kleine Elektroschocks verpasst? Würde das funktionieren? Oder wie wäre es mit Selbsthypnose? Kann ich meinen Geist wirklich aus den alten Bahnen herausreißen? Kann ich mich selbst emanzipieren? Mich erneuern? Mich wie alte Hautzellen regenerieren? Oder ist das zu viel verlangt? Hat Selbsterkenntnis einen Aus-Schalter? Ich habe keine Ahnung. Novalis sagt, es sei Atheismus, wenn man nicht an sich selbst glaube. Okay, in dieser Hinsicht bin ich dann wohl Agnostiker, aber so oder so, ist das mein Projekt? Die Grenzen der gedanklichen Macht auszuloten und zu erkennen, wie die physische Welt tatsächlich aussieht? Und was dann? Kann ich Teil der Welt und in der Welt sein, selbst wenn ich die Grenzen von Raum und Zeit durchbrochen habe? Oder muss ich auf dem Gipfel eines Berges wohnen? Das will ich absolut nicht. Ich möchte unten bleiben und Siebenjährige bestechen, mir Kinokarten zum halben Preis zu kaufen. Wie soll ich mit derart widerstreitenden Wünschen umgehen? Wenn ich Erleuchtung erlangen will, muss ich meine niederen
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