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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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meine Mutter werde?« Ich stampfte mit den Füßen auf, dass das ganze Gebäude wackelte. Der Gedanke war total befreiend. Worüber hatte ich mir bloß die ganze Zeit Sorgen gemacht? Und selbst wenn ich mich in meinen Vater verwandelte, würde es nie meine ganze Person sein, sondern nur ein Teil von mir, ein Bruchteil - vielleicht würde ein Viertel von mir zu ihm, ein weiteres Viertel zu meiner Mutter, ein Achtel zu Terry oder zu dem Gesicht oder zu all den anderen Ich, denen ich bislang noch nicht begegnet war. Die Existenz dieser Bilder gab meiner Existenz eine unermessliche Weite, die ich mir so bislang nie vorgestellt hatte. Ich denke, Sie können meine unbeschreibliche Freude nachvollziehen. Die Periode, in der mein Vater meine Persönlichkeit zu dominieren drohte - die Besatzungszeit -, war nur ein Trugbild. Es waren nie nur er und ich gewesen. Ich war ein ganzes verdammtes Paradies von Persönlichkeiten! Ich setzte mich auf ein Sofa, schloss die Augen und versuchte, mir ein Bild von mir selbst zu machen. Ich konnte nichts Eindeutiges erkennen. Wunderbar! Genauso sollte es sein! Ich bin ein verschwommenes Bild, das ständig versucht, scharf zu werden, und immer, wenn ich mich einen Moment lang deutlich sehen kann, erscheine ich als Gestalt vor meinem eigenen Hintergrund, diffus wie Flaum auf einem Pfirsich.
    Plötzlich wusste ich, was das alles zu bedeuten hatte. Meine Aufgabe war klar: nach Europa zu fliegen und die Familie meiner Mutter aufzuspüren. Das Gesicht war der Ausgangspunkt, der erste Hinweis. Finde das Gesicht, dachte ich, und du wirst die Familie deiner Mutter finden.
    Benommen schnappte ich mir so viele Leinwände wie nur möglich, rief ein Taxi und brachte sie zu mir nach Hause. Ich starrte sie die ganze Nacht lang an. Ich empfand ein Chaos einander derart widersprechender Gefühle, dass es mich zu zerreißen drohte: eine tiefe Trauer über den Verlust meiner Mutter, ein tröstliches Gefühl der Wärme, weil wir einander geistig, seelisch und in unserer Psychose nahe waren, Abscheu und Widerwillen gegenüber dem Gesicht, Stolz darüber, ein Geheimnis entdeckt zu haben, und wilden Zorn, weil ich das Geheimnis nicht entschlüsseln konnte.
    Gegen Mitternacht klingelte das Telefon. Ich wollte nicht drangehen. Die Journalisten ließen mich einfach nicht in Ruhe. Das Telefon hörte auf zu klingeln, und ich seufzte erleichtert auf. Die Erleichterung währte nicht lange. Eine Minute später klingelte es erneut. Das würde noch die ganze Nacht so gehen.
    »Mr. Dean?«, fragte eine männliche Stimme.
    »Hören Sie«, sagte ich, »ich gebe weder Interviews noch Kommentare, und ich liefere auch keine schlauen Sentenzen, warum fallen Sie also nicht lieber irgendeinem Footballspieler auf den Wecker, der auf Gruppenvergewaltigungen steht?«
    »Ich bin kein Journalist.«
    »Was sind Sie dann?«
    »Ich dachte, wir könnten uns vielleicht treffen.« »Und ich dachte, Sie wollten mir sagen, wer Sie sind.« »Das kann ich nicht. Ihr Telefon wird wahrscheinlich abgehört.«
    »Warum sollte mein Telefon abgehört werden?«, fragte ich und beäugte misstrauisch den Apparat. Man sah es ihm nicht an, ob er verwanzt war oder nicht.
    »Könnten Sie morgen früh um 9 am Hauptbahnhof sein?«
    »Wenn das Telefon abgehört wird, wird dann der Abhörer nicht auch dort sein?«
    »Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen.« »Tu ich auch nicht. Ich dachte, Sie tuns vielleicht.« »Sie kommen also?« »Na schön. Ich werde da sein.«
    Er legte auf. Ich starrte eine Weile das Telefon in der Hoffnung an, es würde von selbst weitersprechen und mir all die Dinge erklären, die ich nicht verstand. Doch das tat es nicht.
     
    Um 9 Uhr am nächsten Morgen stand ich am Hauptbahnhof und wartete auf Gott weiß wen. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete die Leute, die in den Bahnhof hasteten, um ihren Zug zu erwischen, und die Leute, die aus dem Bahnhof gehastet kamen, um von den Zügen wegzukommen. Es schien sich um dieselben Menschen zu handeln.
    Ein Auto hupte. Ich entdeckte einen schwarzen Mercedes mit getönten Scheiben. Der Fahrer hatte sich aus dem Fenster gelehnt und winkte mich mit dem Finger herbei. Ich kannte ihn nicht. Als ich nicht reagierte, begann er, mit der ganzen Hand zu winken. Ich ging zu ihm hin. Selbst als ich direkt neben dem Wagen stand, konnte ich nicht erkennen, wer auf dem Rücksitz saß.
    »Mr. Dean, würden Sie bitte hinten einsteigen?« »Warum sollte ich?«
    »Jasper! Steig endlich ein!«,
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