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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen
Autoren: Steve Toltz
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versuchte zu schlafen, und als der Schlaf nicht kommen wollte, versuchte ich, ihn herbeizulocken. Auch das funktionierte nicht. Ich stand auf, trank zwei Biere und legte mich wieder aufs Sofa. Mein Geist übernahm und grub ein paar Bilder aus, die, wenn ich nur fest genug an sie dachte, verblassten. Ich beschloss, stattdessen lieber an die Zukunft zu denken. In drei Tagen säße ich in einem Flugzeug nach Europa, so wie einst mein Vater im ungefähr gleichen Alter, als fast alle tot waren, die er gekannt hatte. Tja, manchmal muss man eben in die Fußstapfen anderer treten. Man kann nicht erwarten, dass man das Copyright auf jedes Husten, jedes Jucken und jeden Nieser hat.
    Gegen Mitternacht begann ich, an dem Nachruf auf meinen Vater zu arbeiten, den Anouk für ihre Zeitung haben wollte. Nachdem ich zwei Tage lang auf eine leere Seite gestarrt hatte, fing ich an.
     
    Martin Dean (1956-2001)
     
    Wer war mein Vater?
    Der Abschaum des Universums.
    Der Fettrand.
    Ein Krebsgeschwür im Maul der Zeit.
    Es bekümmerte ihn, dass er keinen großen historischen Namen trug wie Papst Innozenz VIII. oder Lorenzo der Prächtige. Er war derjenige, der mir erklärt hat, dass niemand Lebensversicherungen kaufen würde, wenn sie Todesversicherungen hießen.
    Wahre Gründlichkeit bedeutete für ihn, die eigene Asche beerdigen zu lassen.
    Er meinte, dass Menschen, die keine Bücher lesen, nicht wissen, dass zahllose tote Genies auf sie warten.
    Er war der Ansicht, es herrsche keine Leidenschaft für das
    Leben, sondern nur für den Lebensstil.
    Was Gott angeht - er war der Ansicht, wenn man in einem
    Haus wohne, sei es nur von geringem Interesse, den Namen
    des Architekten zu kennen, der es entworfen hat.
    Was die Evolution angeht - er hielt es für unfair, dass der
    Mensch an der Spitze der Nahrungskette steht, obwohl er
    glaubt, was in der Zeitung steht.
    Was Leiden und Schmerz angeht - er war der Ansicht, man könne alles ertragen. Allein die Furcht vor Schmerz und Leiden sei unerträglich.
     
    Ich las noch einmal durch, was ich geschrieben hatte. Stimmte alles. Nicht schlecht. Das klappte ja prima. Aber ich sollte etwas persönlicher werden. Schließlich war er ja nicht bloß ein Gehirn in einem Einmachglas gewesen, das Ideen produzierte, er war auch ein menschliches Wesen mit Ideen, die ihn krank gemacht hatten.
     
    Seine Einzigartigkeit ging immer mit Einsamkeit einher. Seine Einzigartigkeit war schrecklich für ihn. Wenn er eine Mutter im Park nach ihrem Kind rufen hörte, musste er auch nach ihm rufen, krank vor Sorge, dass dem kleinen Hugo (oder wem auch immer) etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte.
    Er war stets stolz auf Dinge, die andere mit Scham erfüllten. Er hatte einen ziemlich komplexen Jesus-Komplex. Seine Weltanschauung lautete in etwa: »Dieser Ort ist Mist. Möbeln wir ihn auf.«
    Er war unwahrscheinlich energiegeladen, aber Hobbys, die Energie erfordert hätten, hatte er keine. Daher las er die meisten Bücher, während er spazieren ging, oder er schaute Fernsehen und lief dabei rastlos von einem Zimmer zum anderen.
    Er konnte mit jedem Menschen Mitgefühl empfinden, und wenn Dad erfuhr, dass irgendwo auf der Welt ein Mensch litt, musste er nach Hause gehen und sich hinlegen.
     
    Okay. Was noch?
    Ich schaute mir an, was ich geschrieben hatte, und fand, nun sei es an der Zeit, ans Eingemachte zu gehen.
     
    Die Vorstellung von seiner Sterblichkeit ruinierte Dads ganzes Leben. Schon der bloße Gedanke daran streckte ihn wie ein tödliches Tropenfieber nieder.
     
    Großer Gott. Bei diesem Thema wurde mein ganzer Körper zu Blei. So wie Terry erkannt hatte, dass die Furcht vor dem Tod ihn beinahe das Leben gekostet hätte, hatte Dad oft genug seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass er die Todesfurcht für den Beweggrund allen menschlichen Glaubens hielt. Ich begriff nun, dass ich mir eine tückische Mutation dieser Krankheit zugezogen hatte, nämlich die Furcht vor der Furcht vor dem Tod. Ja, anders als Dad und anders als Terry habe ich weniger Angst vor dem Tod als vor der Angst davor. Diese Angst, die Menschen veranlasst, gläubig zu werden, andere umzubringen und sich selbst zu töten; ich fürchte diese Angst, die mich dazu bringen könnte, unbewusst irgendeine tröstliche oder verworrene Lüge zu fabrizieren, auf die ich dann mein ganzes Leben gründen würde.
    War ich nicht im Begriff fortzugehen, um dem Gesicht in meinen Albträumen nachzujagen?
    War ich nicht im Begriff, mich auf eine Reise zu
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