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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser
Autoren: Jilliane Hoffman
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dachte, Sie hören die Stimmen gar nicht mehr.» Julia schüttelte wieder den Kopf
« Nein. Ich – ich – ich höre sie nicht mehr. Manchmal werde ich, äh, werde ich nervös, weil ...» Sie holte tief Luft. Es war heiß. Die Worte, die aus ihrem Mund kamen, klangen dumpf Sie spürte, wie John und die Ärztin sie beobachteten, wie sie analysierten, was sie tat und sagte, und es mit
« normalen» Reaktionen, Sätzen und Gefühlen verglichen. Dr. Ryan verglich sie mit anderen Patienten und den Fallstudien in ihren Fachbüchern. John verglich sie wahrscheinlich mit der
« alten» Julia. Mit der Julia, die keine unzusammenhängenden Sätze vor sich hin brabbelte oder in eine Welt abdriftete, zu der sonst niemand Zugang hatte.
« ... weil ich Angst habe, dass sie zurückkommen.» Würde sie es merken, wenn die Stimmen tatsächlich zurückkamen? Würde sie erkennen, dass ihr eigener Verstand sie in die Irre führte? Oder würde der Wahnsinn sie beim nächsten Mal mit solcher Wucht überrollen, dass sie ihn nicht mehr bekämpfen konnte? Sie kannte die Prognosen. Laut Statistik würde sie in spätestens einem Jahr wieder in einer Anstalt landen. In den nächsten zehn Jahren bestand jeweils eine fünfundzwanzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass sie sich entweder vollständig erholte und ein halbwegs normales und unabhängiges Leben rühren konnte – was immer das bedeuten mochte ~, oder aber, dass sie außerhalb einer Anstalt nur schlecht zurechtkam. Mit fünfzehnprozentiger Wahrscheinlichkeit würde sie als Dauergast in einer geschlossenen Abteilung enden und mit zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit Selbstmord begehen. Im Großen und Ganzen sah ihre Zukunft nicht besonders rosig aus. Als könne John ihre Gedanken lesen, beugte er sich zu ihr, nahm ihre Hand und streichelte sie sanft.
« Es gibt Menschen, die diese Krankheit besiegen, das weißt du.»
« John hat recht», sagte Dr. Ryan.
« Mit Hilfe von Medikamenten werden manche Patienten vollständig geheilt. Sie haben bisher nur schreckliche Erfahrungen mit dieser Krankheit gemacht, sowohl in Ihrer eigenen Familie als auch in einem juristischen Umfeld. Aber mehr als zwei Millionen Menschen leben mit dieser Krankheit, und das allein in den Vereinigten Staaten. Dank der richtigen Behandlung geht es vielen von ihnen sehr gut. Sie üben einen Beruf aus und haben eine Familie. Vergessen Sie, was Sie im Gerichtssaal oder im Fernsehen gesehen haben. Schizophreniekranke sind nicht immer gewalttätig. Es gibt Hoffnung.» Sie lächelte Julia an.
« Bei Ihnen spielen viele positive Faktoren mit hinein. Und Sie haben jemanden, der Ihnen beisteht und Sie unterstützt. Ich glaube, dass Sie die Behandlung ohne weiteres außerhalb einer KÜnik fortsetzen können.» Die Ärztin erhob sich.
« Das Wichtigste ist, dass Sie auch weiterhin Ihre Medikamente nehmen. Selbst wenn Sie sich wieder völlig normal fühlen.»
« Die Medikamente machen mich so müde», sagte Julia.
« Ja, das ist eine unangenehme Nebenwirkung. Aber das Mellaril schlägt bei Ihnen momentan ganz gut an ... Ich würde das Medikament nur ungern wechseln. Andere Psychopharmaka können gravierende Nebenwirkungen haben. Wir sollten es erst einmal dabei belassen. Und das Elavil hilft gegen Angstzustände und Depressionen, allerdings dauert es bei diesem Medikament ein wenig länger, bis die Wirkung eintritt.» Dr. Ryan ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich noch einmal zu Julia um.
« Ich sehe Sie in drei Tagen in meinem Büro, dann schauen wir, wie Sie zurechtkommen. Ich wünsche Ihnen viel Glück.» Sie verließ das Zimmer, und John und Julia waren allein. Das Vogelgezwitscher begann aufs Neue, und Julia sah aus dem Fenster. Das Männchen war zurückgekehrt, den Schnabel voller Zweige.
« Wann fahren wir nach Hause?», fragte sie leise.
« Ich ...» Sie versuchte, den Gedanken zu Ende zu führen, aber er war irgendwo steckengeblieben, also schwieg sie.
« Ich habe ein Haus in Anaconda gemietet», sagte John und blickte ebenfalls aus dem Fenster.
« Das ist nur ein paar Kilometer von hier entfernt. Eine ruhige, idyllische Kleinstadt – also erwarte keine wilden Partys wie in South Beach.» Er lächelte.
« Ich habe deine Unterhose mit Leopardenmuster gar nicht erst eingepackt. Meine übrigens auch nicht.» Julia lachte verhalten.
« Ich glaube, dass wir schon für eine Weile hier draußen bleiben werden», sagte er.
« Gut versteckt und abgeschnitten von der Außenwelt», flüsterte sie und wurde mit einem Mal wieder
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