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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser
Autoren: Jilliane Hoffman
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Anbetracht Ihrer Familiengeschichte keine großen Hoffnungen machen möchte.» Julia wusste, dass sie aufmerksam zuhören sollte, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Die Vögel zwitscherten so laut, als wollten sie erreichen, dass Julia nur noch ihren Gesang hörte. Das Zwitschern erfüllte ihren Kopf, für alles andere war kein Platz mehr. Julia versuchte, sich an einigen Wörtern der Ärztin festzuhalten. Positiv. Umstände. Verlauf. Die Wörter durften ihr nicht entgleiten, ganz gleich, wie laut das Zwitschern war. Sie wusste, was mit ihr passieren würde, wenn sie müde wurde und losließ. Das war das ... Positive. Ihr war bewusst, was mit ihr geschah, und das sprach für einen günstigen Verlauf. Plötzlich war alles klar und ergab einen Sinn. Julia seufzte erleichtert.
« Es gibt auch andere positive Faktoren, die wir berücksichtigen sollten. Sie sind eine Frau, und statistisch gesehen haben Frauen nach einem, fünf oder auch nach zehn Jahren eine weitaus bessere Prognose als Männer. Bei Ihnen sind erst im Alter von achtundzwanzig Jahren erste Anzeichen der Krankheit aufgetreten, das ist ebenfalls gut. Je älter man beim Ausbruch der Krankheit ist, desto positiver ist meist der Verlauf. Bis vor ein paar Wochen waren Ihr Verhalten und Ihre Denkprozesse weitgehend normal, wie Sie und John mir berichtet haben. Sie hatten weder Wahnvorstellungen noch Halluzinationen. Sie litten auch als Kind nicht unter derartigen Symptomen. Das ist ebenfalls sehr gut.» Dr. Ryan sah zu John.
« Patienten, die eine normale Kindheit verleben», sagte sie und malte bei dem Wort
« normal» Anführungszeichen in die Luft, « und bei denen die Krankheit plötzlich im Erwachsenenalter ausbricht, haben eine bessere Langzeitprognose als Patienten, bei denen sich die Krankheit über Monate oder Jahre hinweg kontinuierlich entwickelt. Natürlich ist jeder Fall einzigartig, und ich muss betonen, dass das rein statistische Informationen sind.»
« Inwieweit spielt es eine Rolle, was mit ihrem Bruder und ihren Eltern geschehen ist?», fragte John.
« Die Morde waren zweifellos ein traumatisches Erlebnis, aber man muss sie trotzdem gesondert betrachten. Julia war in ihrer Kindheit sowohl emotional als auch sozial völlig unauffällig. Und wenn man bedenkt, wie traumatisch dieses Ereignis war, ist es schon bemerkenswert, dass sie keinerlei psychiatrische Behandlung in Anspruch nehmen musste. Obwohl Stress schon länger nicht mehr als Ursache für Schizophrenie gilt, kann er bei Menschen, die eine Veranlagung für die Krankheit haben, der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass Julia bisher noch keine schizophrenen oder psychotischen Symptome gezeigt hat, lässt vermuten, dass sie sehr stark ist.» Es ist, als hätte in ihrem Kopf ein Erdbeben stattgefunden. Berge stürzen ein. Meere vertrocknen. Die Landschaft wird nie wieder so sein wie zuvor. Julias Blick schweifte wieder zum Fenster. Sie beobachtete, wie das Kardinalsmännchen mit dem leuchtend roten Gefieder plötzlich in die weiße Landschaft flog. Sie sah ihm nach, bis es nur noch ein kleiner Fleck war und schließlich ganz verschwand. Das Weibchen blieb allein zurück, und Julia bemerkte, dass es aufhörte zu zwitschern.
« Aber wir müssen Ihre Familiengeschichte mit in Betracht ziehen, Julia.» Der Gesichtsausdruck der Arztin wurde ernster, angespannter.
« Je mehr Familienmitglieder an der Krankheit leiden, desto schlechter ist die Prognose. Ihr Vater und Ihr Bruder waren schizophren, also zwei direkte Verwandte. Über andere Familienmitglieder wissen wir leider nichts, da niemand mehr Auskunft geben kann. Aber Sie reagieren gut auf die Medikamente Julia, und das ist sehr positiv. Sie hören auch keine Stimmen mehr, nicht wahr?» Das Weibchen begann wieder zu zwitschern, aber die Töne klangen anders, irgendwie besorgt, und wurden immer eindringlicher. Schließlich gab es den Nestbau auf und hüpfte von Ast zu Ast.
« Julia?» Dr. Ryan sah sie an. Sie wusste nicht, wie lange schon. Wie lange war sie diesmal fort gewesen?
« Julia, hören Sie noch Stimmen?» Die Ärztin sprach langsam und deutlich, als hätte sie die Frage schon ein paarmal gestellt. Halte dich an den Worten fest. Medikament. Positiv. Stimmen. Sie schüttelte den Kopf.
« Nein. Ich glaube, sie haben aufgehört. Manchmal ...» Sie verstummte. Plötzlich fand sie es schrecklich heiß im Zimmer.
« Sie hören manchmal auf?» Dr. Ryan runzelte die Stirn.
« Ich
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