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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser
Autoren: Jilliane Hoffman
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genau wie damals bei der Anhörung zur Feststellung der Prozessfähigkeit. Julia konnte nicht wegsehen. Sie konnte sich nicht bewegen, obwohl sie von Lat und den Reportern langsam weitergeschoben wurde. Sie kam sich vor wie in einem schalldichten, luftleeren Raum, in dem alles in Zeitlupe ablief. Und als die Wachmänner David Marquette schließlich zu der Tür brachten, durch die man auf die Brücke und zurück zum Gefängnis gelangte, tat er etwas, was Julia noch nie bei ihm gesehen hatte. Nicht ein einziges Mal. Etwas, das ihren Herzschlag aussetzen ließ und ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Er lächelte ihr zu.
KAPITEL 102
    M EINE DAMEN und Herren Geschworenen, sind Sie zu einem Urteil gekommen? Die Worte des Richters klangen zäh und dumpf zu ihm herüber. Die Zeit schien aus den Fugen geraten zu sein, Sekunden wurden zu Stunden, wie in einem Film mit zu vielen Zeitlupenaufnahmen. Die Menschenmenge hielt den Atem an, während der Richter sprach. Der Moment erschien so zerbrechlich, als hätte jemand eine teure Vase fallen lassen und wartete nun darauf, dass sie auf dem Boden in tausend Stücke zersprang. Genauso stellte er sich die letzten Stunden seines Lebens vor, falls man ihn zum Tode verurteilte. Stunden würden zu Tagen werden, die letzten Sekunden zu einer Ewigkeit, bis er es vielleicht kaum noch erwarten konnte, dass es endlich vorbei war. Vor Angst und Aufregung kitzelte es ihn am ganzen Körper. Er widerstand dem Drang, sich zu kratzen. Er musste hier ruhig verweilen, ganz egal, wie viel Angst er hatte. Es dauerte nicht mehr lange. Sie waren alle seinetwegen hier. Nicht wegen seines brillanten Vaters oder seiner kaltherzigen Mutter oder seines bemitleidenswerten Bruders. Sie waren aus der ganzen Welt angereist, um ihn zu sehen. Ihn zu hören. Ihn zu filmen. Und während er darauf wartete, sein Schicksal zu erfahren, gefangen in diesem zerbrechlichen Moment, redeten auf der ganzen Welt Millionen Menschen über ihn. Natürlich war es nie seine Absicht gewesen, so viel Aufmerksamkeit zu erregen, aber er fand es belustigend, wie sich die Dinge manchmal entwickelten. Und er war mehr als nur ein bisschen stolz darauf, dass er so weit gekommen war. Aber noch gab es keinen Grund für Selbstzufriedenheit, noch befand sich die Vase in der Luft. Sein Anwalt beugte sich zu ihm.
« David, hören Sie mir zu», flüsterte er ernst, in der Hoffnung, zu ihm durchzudringen.
« Wenn die Geschworenen Sie für schuldig befinden, sagen Sie nichts. Alles, was Sie sagen und tun, kann gegen Sie verwendet werden. Sobald der ganze Papierkram erledigt ist, komme ich sofort zu Ihnen, und ich werde beantragen, dass man Sie wieder in den neunten Stock bringt, damit Sie weiterhin Ihre Medikamente bekommen.» Angeklagter, bitte erheben Sie sich ... Er bemerkte, dass der Richter zu ihm herüberblickte. Und dann sah er den Richter blinzeln. Es geschah so schnell, dass er sicher war, dass niemand anders es bemerkt hatte. Aber er hatte in seinem Leben schon oft genug Poker gespielt und erkannte einen missglückten Bluff. Richter Farley hatte sich mit einem kurzen Aufflackern von Panik in seinen Augen verraten. In diesem kurzen Moment wusste er, was die Gerichtsschreiberin sagen würde. Sein Anwalt zog sachte an seinem Ellbogen, um ihm zu zeigen, dass er aufstehen sollte.
« Sagen Sie also bitte nichts, das ist wirklich sehr wichtig.» Er stand auf. Würde die Gerichtsschreiberin dann bitte das Urteil verkünden ... Alles in ihm entspannte sich, und er biss sich auf die Innenseiten seiner Wangen, biss immer fester zu, bis er Blut schmeckte. Der Schmerz hielt ihn davon ab, sich zu rühren. Zujubeln. Zu seufzen. Zu lachen. Wir befinden den Angeklagten für nicht schuldig aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit ... Er wollte schreien oder in die Luft springen. Sogar seinen Anwalt umarmen. Er wollte sich umdrehen und seinen weinenden Vater umarmen – bevor er diesen erbärmlichen Ausdruck von Verzweiflung aus dem Gesicht des alten Mannes prügelte. Es war derselbe Ausdruck, mit dem sein Vater Darrell betrachtete. Er wollte ihn wegwischen. Seine Mutter war schon immer sehr viel diskreter gewesen und verlieh ihrer Scham erst dann Ausdruck, wenn die Kameras nicht mehr liefen. Er brauchte sich nicht einmal umzuwenden, um zu wissen, dass sie bereits fort war. Sie würde die Schande niemals verkraften – die Schande, zwei schizophrene Söhne zu haben, die Schande, die Mutter eines wahnsinnigen Mörders zu sein. Wahrscheinlich
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