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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel
Autoren: Landolf Scherzer
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verseuchte
     Erde ab und begruben Erde unter Erde. Aber am gefährlichsten war die Beseitigung der radioaktiven Trümmer auf den Dächern
     der übriggebliebenen Reaktoren. Feuerwehrleute und Soldaten hievten japanische und deutsche Spezialroboter und ein sowjetisches
     Mondmobil auf das Dach. Doch die Elektronik der Roboter verweigerte die Arbeit wegen zu hoher Strahlenwerte. Da schickte die
     sozialistische Einsatzleitung menschliche Roboter, die freiwilligen Liquidatoren, auf das Dach. Auf ein Sirenenzeichen sprangen
     jeweils neun dieser Liquidatoren aus ihrer Deckung und versuchten mit Schaufeln und Spaten die Atomtrümmer vom Dach zu stoßen.
     Nicht länger als 90 Sekunden. Dann heulte die Sirene, und die nächsten neun Liquidatoren sprangen auf das Dach. Für diese
     90 Sekunden ihres Lebens erhielten sie eine Urkunde, eine Prämie und die vorzeitige Entlassung aus der Armee. Menschenmaterial.
    Heute spricht kein einziger der ukrainischen Politiker über die Tausenden von Liquidatoren, die inzwischen anden Strahlenfolgen gestorben sind. Sie sprechen auch nicht über die Kinder in der Umgebung von Tschernobyl, die, weil die
     Familien kein Geld haben, um sich saubere, also strahlungsfreie Lebensmittel zu kaufen, noch Beeren und Pilze in den verseuchten
     Wäldern sammeln müssen. Ihre Körper sind angefüllt mit radioaktiven Nukliden. Die Politiker reden nicht darüber. Sie reden
     nicht über das Recht dieser Kinder, zu leben und wieder gesund zu werden. Stattdessen diskutieren sie, ob die Ukraine sich
     Russland oder den USA anschließen soll, sie sorgen sich um den Beitritt zur EU und die Erhaltung ihrer Macht. Über die krebskranken
     Kinder, die nur operiert werden, wenn die Eltern das Geld haben, den Arzt zu bestechen, darüber reden sie nicht.
    Wir haben Kleider und Plüschtiere für die Kinder nach Tschernobyl gebracht. Und ich fühlte mich wieder ohnmächtig.
    In diesem Sommer marschierte ich für eine Buchrecherche 500 Kilometer durch Ungarn, Kroatien, Serbien und Rumänien. 2 Jeden Abend bat ich in einem der Dörfer der staubigen, sehr heißen Tiefebene um ein Nachtlager. Ich schlief in Kirchen, bei Zigeunern, in Maisfeldern und in eingefallenen Lehmhütten. In der Nähe von Kikinda,
     es regnete in Strömen, fand ich ein Gehöft, in dem ich mich unterstellen wollte. Eine alte Frau, freundlich und hilfsbereit
     wie viele der Menschen, die ich in Serbien kennenlernte, holte ihren Mann, der mich ins Haus einlassen sollte. Der Mann fragte,
     woherich komme. Ich sagte, aus Deutschland. Da wurde sein Blick plötzlich starr und böse. Er zeigte zum Himmel. Ja, sagte ich:
     ›Kiša – Regen.‹ – ›Nije‹, sagte er plötzlich hasserfüllt. ›Nije kiša – kein Regen! Bomba – Bombe! Nemačka bomba! NATO-bomba!‹
     Er ging und verschloss die Haustür. Später, ich hatte mich unter einem Nussbaum verkrochen, kam die Frau. Sie sagte, ihr Sohn,
     ihr einziger Sohn, sei vor zehn Jahren, als die NATO-Bom ben im Krieg gefallen waren, getötet worden.
    Und wieder diese Ohnmacht.
    Entschuldigen Sie bitte, ich möchte meine Erlebnisse in Moçambique, Serbien, der Ukraine und Eisenach nicht pessimistisch
     gewertet wissen. Aber wir können die Wirklichkeit, also auch die Einhaltung der Menschenrechte, nur verändern, indem wir die
     Wirklichkeit erst einmal erkennen. Nicht die geschönte Wirklichkeit der Politiker oder die sensationelle der Medien. Sondern
     die vor Ort.
    Hoffnung? Ja, auch Hoffnung. Ich erinnere mich an meinen schrecklichsten Tag in Moçambique. In einer Hütte sah ich vier Tote.
     Verhungert. Die Mutter und drei Kinder. In der Ecke der Hütte stand eine Tonschale, in der noch Maiskörner für mindestens
     drei Mahlzeiten lagen. Ich verstand nichts. Bis mir ein Afrikaner sagte: »Diese Körner sind das Saatgut. Man darf es nicht
     anrühren! Eher verhungern als das Saatgut anrühren. Denn irgendwann kommt der Regen, und dann braucht man die Samenkörner.«
    Auch in den schrecklichen Zeiten Samen aufbewahren für die Zeit, in der man wieder säen kann!
    Das gibt mir Hoffnung. Hoffnung wie Ihr Hiersein.Junge Leute aus vielen Ländern mit einer gemeinsamen Verantwortung für das großes Thema der Menschenrechte. Menschenrechte
     und Menschenwürde kann man nicht administrieren. Aber jeder von uns kann sie vorleben. Ich weiß, dass Sie das, nach Hause
     kommend, weiter tun werden. Die Afrikaner sagen: »Bäume können sich nicht treffen. Aber Menschen.«
    Danke, dass wir uns hier treffen
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