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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel
Autoren: Landolf Scherzer
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um den Teufel
     nicht herausgeben! Das furchtbare Gefühl der eigenen Ohnmacht spürte ich nie wieder so zerstörerisch.
    In meiner Gruppe arbeitete auch ein schon lederhäutiger Mann. Er war so alt, dass niemand sagen konnte, wie alt er war. Ich
     nannte ihn »o meu pai«, mein Vater, und versuchte ihn vor schweren Arbeiten zu schützen. Aber als wir sehr große Hohlblocksteine
     auf einen LKW laden mussten, versuchte er, ächzend wie ein Gewichtheber, selber Steine auf den LKW zu wuchten. Ich verbot
     es ihm, da versuchte er heimlich auf der Gegenseite einen Stein anzuheben. Ich schrie ihn an. Er duckte sich wie unter Schlägen.
     Ich nahm ihn in meine Arme und setzte ihn auf einen Sandhaufen. Da stammelte er etwas in der Landessprache. Pinto übersetzte:
     »Du sollst ihn nichtwegjagen, Chef, nur weil er schon so alt ist. Ohne seine Arbeit wird seine Familie verhungern müssen. Du sollst ihn nicht
     wegjagen.«
    Und wieder diese Ohnmacht.
    Doch nach Mocambique sah ich das eigene Land und die im Gegensatz zu Afrika fast bedeutungslosen deutschen Probleme mit völlig
     anderen Augen. Manchmal wünschte ich mir, dass alle Menschen der reichen Welt nur eine Woche lang irgendwo, nicht in einer
     dieser schrecklichen eingezäunten perversen Luxustourismusburgen, sondern in einem kleinen afrikanischen oder asiatischen
     Dorf leben müssten. Um den Unterschied zu begreifen: dort Kampf um Menschenrechte, um überleben zu können, hier, um angenehmer,
     sozialer und sicherer zu leben.
    Vor vier Monaten habe ich zwei Wochen lang an der Eisenacher Tafel gearbeitet, Lebensmittel in Kaufhallen eingesammelt und
     die noch verwertbaren an Bedürftige ausgegeben. Im reichen Deutschland gibt es über 800 dieser Tafeln, an denen kostenlos
     oder für zwei Euro Lebensmittel ausgegeben werden. Alles, was sonst in Supermärkten, Gaststätten usw. weggeworfen wird, sammeln
     Mitarbeiter der Tafel. Tausende Tonnen von Bananen, Apfelsinen und Orangen, die für einen nicht zum Leben reichenden Hungerlohn
     in Afrika und Asien angebaut werden, um sie in Europa billig verkaufen zu können. Und wegzuschmeißen.
    Die Perversität des Kapitalismus: Um Preise stabil zu halten, wurde früher Milch ins Meer geschüttet. Heute wird Butter auf
     Deponien gefahren, werden noch ordentliche Autos verschrottet … Und wieder diese Ohnmacht.
    Ich habe in der Eisenacher Tafel unter den Hunderten Menschen, die dort anstehen, kaum Asoziale, Bettler oder Alkoholiker
     gefunden. Aber 50 Jahre alte Diplomingenieure und auch Professoren. Sie hatten früher ein Recht auf Arbeit. (Ist das Recht
     auf Arbeit auch ein Menschenrecht?) Doch seit vielen Jahren sind sie auf die Almosen des Staates oder privater Spender oder
     die Reste der Wohlstandsgesellschaft angewiesen. Wie viel Scham muss ein Mensch, der früher Studenten unterrichtet oder Maschinen
     konstruiert hat, überwinden, um sich zweimal in der Woche in die Schlange der Bedürftigen einzureihen? Sie sprechen nicht
     miteinander. Sie haben ohne Arbeit kein Geld, um wie früher ein Theater zu besuchen, eine Zeitung zu abonnieren, in eine Gaststätte
     zu gehen, sich in der Volkshochschule mit Töpferei zu beschäftigen … Ich weiß, dass sind alles keine Probleme im Gegensatz
     zu den Nöten der Menschen in Afrika.
    Im Sozialismus wurde verkündet: Im Mittelpunkt steht immer der Mensch. Nein, das stimmte nicht. Der Mensch wurde auch im Sozialismus
     gebraucht und missbraucht. Ich war, um eine Reportage darüber schreiben zu können, vor einem Jahr in Tschernobyl, das heißt
     in der Zone um den immer noch strahlenden, unter Stahl und Beton begrabenen Todesreaktor. 1 Bei der Kernexplosion im Atomkraftwerk Tschernobyl, der größten technologischen Katastrophe im 20. Jahrhundert, wurden am 26. April 1986 Tausende Tonnen radioaktive Brennstäbe und Graphitblöcke
     in die Luft geschleudertund sechstausendmal mehr Radioaktivität als durch die Hiroshima-Bombe freigesetzt. Die ersten verstrahlten Menschen starben
     schon nach 12 Stunden. Danach mussten 600.000 Menschen, sogenannte Liquidatoren, in wenigen Monaten innerhalb der am meisten
     verseuchten 30-Kilometer-Zone die schlimmsten radioaktiven Folgen beseitigen. Sie hoben in den Dörfern mit Baggern Löcher
     aus, in denen sie die verstrahlten Holzhäuser versenkten. Anschließend durchstreiften Jäger die leeren Dörfer und erschossen
     die nun vergeblich Menschen suchenden zutraulichen hochverstrahlten Katzen und Hunde. Und Soldaten trugen die radioaktiv
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