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Urlaub fuer rote Engel

Urlaub fuer rote Engel

Titel: Urlaub fuer rote Engel
Autoren: Landolf Scherzer
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gefunden, die die Verbrennungsöfen für Buchenwald und Auschwitz herstellte,
     sondern auch die moralische Anfälligkeit der »sozialistischen Arbeiter«, die 1988 mit den angolanischen Arbeitern ihres Betriebes
     bei Brigadefeiern auf die »ewige internationalistische Freundschaft«tranken und zwei Jahre später diese angolanischen Arbeiter wie Freiwild jagten. Und er hat die Geschichte der jungen alleinstehenden,
     arbeitslosen Frau notiert, die mit dem kleinsten ihrer drei Kinder schon draußen auf dem Sims des Balkons ihrer Hochhausplattenwohnung
     in Bad Salzungen stand und nicht sprang …
    Die letzten weißen Flecken auf der Landkarte der Erde sind inzwischen verschwunden. Nicht so die weißen Flecken in der Landschaft
     der aktuellen sozialen Wirklichkeit dieses Landes. Der Reporter betritt sie in diesem Buch nicht nur aus beruflicher Neugier,
     sondern auch aus einer Verantwortung für die Menschen, die er in ihren Lebensnöten beschreibt.
    Scherzer serviert dem Leser nicht das schnell aufgepeppte, überall gleiche Fast-Food-Häppchen der meisten Medien, er bereitet
     vielmehr ein nach traditionellen Reportagerezepten ordentlich gekochtes Gericht, er serviert Wirklichkeit in nahrhafter Form.
     Reportage wird in dieser Zeit sozialer Konflikte wieder zu einem wichtigen
Lebensmittel
.
     
    Günter Wallraff
    Köln, im Februar 1997

I

Feenmärchen zu verkaufen
    Als ich im Geraer Ortsteil Roschütz eine alte Frau nach dem Rittergut frage, mustert sie mich ungläubig und will wissen, ob
     ich es auch kaufen möchte. Ich nicke, und mütterlich rät sie, mich möglichst nicht bei den Bewohnern blicken zu lassen. Die
     würden am liebsten ihre Wohnungen verbarrikadieren, denn sie wüssten ja nicht, was der neue Gutsbesitzer dann daraus machen
     würde. »Vielleicht Pferdeställe.«
    Nach dieser Warnung weist sie mir den Weg durch Wiesen und Äcker zum Rittergut. Es thront auf einer Anhöhe weit draußen am
     nördlichen Ortsrand von Gera. Der Dezemberwind bläst kalt, und ich laufe mich im Geviert von Gutshaus, Wirtschafts- und Wohngebäude
     und Stallungen warm. Eine Frau Eckstein, die mir im Auftrag der Liegenschaftsgesellschaft der Treuhand die Gebäude zeigen
     und anpreisen soll, ist auch eine Viertelstunde nach dem vereinbarten Termin noch nicht zu sehen.
    Wütend klinke ich an den Türen des herrschaftlichen, mit vielen Erkern und Fachwerk geschmückten dreistöckigen Gutshauses.
     Die sind verschlossen. Ich versuche durch die Fenster ins Innere zu lugen, aber die sind blind oder mit rindigen Abfallbrettern
     vernagelt … Dabei schien mir der Schlosskauf bis zu diesem Moment sehr einfach.
    Ich hatte mir in dem »Schlösser für die Zukunft. Fairytales for sale«-Hochglanzkatalog, mittels dessen die Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft
     für den Richtpreis zwischen 1 DM und 3.   800.   000 DM 20 Burgen, Schlösserund Herrenhäuser, gelegen auf dem Gebiet der alten DDR, in aller Welt anbietet, ein kleines und ein großes Anwesen ausgesucht:
     das Rittergut bei Gera für 2.   100.   000 DM und das Marienthaler Schlösschen bei Schweina (Wartburgkreis) für 430.000 DM. Rief bei den zuständigen Treuhand-Büros
     in Gera und Suhl an, erhielt von dort je ein dickes grünes undurchsichtiges Kuvert, in dem ich bis zum 14. Dezember 1994 um
     14 Uhr einen Erwerbsantrag mit Angaben zur Schlossnutzung, zu den geplanten Investitionen, den gesicherten Arbeitsplätzen,
     dem Kaufangebot, meinen Referenzen, Bankverbindungen und dem Nachweis meiner Bonität abzugeben hatte. Zuvor nannte man mir
     einen Besichtigungstermin. Und zu diesem Termin stehe ich nun frierend vor den verschlossenen Türen des Rittergutes.
    Bis 1893 war es als Herrschaftssitz in adligen Händen geblieben. Anschließend Sommerresidenz Geraer Großindustrieller. Nach
     deren Weltwirtschaftskrisen-Bankrott musste es 1930 schon einmal in Treuhandverwaltung. Und die ließ es zu einem Reichsarbeitsdienstlager
     für Mädchen umfunktionieren. Nach dem Krieg Lazarett der Roten Armee. Später Internat für die Ausbildung von Thüringer Volksrichtern,
     schließlich bis zur Wende Schulungsstätte für Pionierleiter und nach dem Systembankrott wieder im Besitz der Treuhand. Deutsche,
     für mich vorerst noch verschlossene Zeitgeschichte …
    Eine Tür des flachen, lehmbraun verputzten und trotzdem ungeniert seine roten Ziegel zeigenden Wirtschafts- und Wohngebäudes
     öffnet sich. Drinnen wischt eine junge Frau das Treppenhaus. Nein, sagt sie, die Eckstein
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