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Unverstanden

Unverstanden

Titel: Unverstanden
Autoren: Karin Slaughter
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Ihrige dazugetan, dass sie nun eher wirkte, als wäre sie in Martins Alter, und nicht wie eine dreiundsechzigjährige Frau.
    »Hallo, Mutter.«
    »Warum bist du nur immer so mürrisch, wenn ich dich besuche?«, schalt sie ihn und zog Block und Füller aus ihrer Prada-Tasche. »Du machst einen ja richtig depressiv.«
    »Ich sitze in der Todeszelle, Mutter.«
    »Bitte«, murmelte sie, und er hätte schwören können, dass sie sich einen britischen Akzent zugelegt hatte.
    »Du solltest mal sehen, was diese Schuhe mit meinen entzündeten Fußballen anstellen.« Sie
streckte ein Bein aus, damit er den Zehn-Zentimeter-Absatz an ihren Jimmy Choos sehen konnte. »Ich hab sie vor ein paar Tagen bei Regis und Kelly getragen, und als ich dann wieder von der Bühne kam, hätte ich am liebsten jemanden umgebracht.« Sie hatte ein Funkeln in den Augen. »Natürlich nur bildlich gesprochen.«
    »Natürlich«, sagte Martin. Sie wussten beide, was passiert war. Martin war kein Trottel - zumindest kein so großer Trottel, wie seine Mutter dachte. Er hatte sein ganzes Leben lang Krimis und Mordgeschichten gelesen. Durch einen simplen Prozess der Eliminierung hatte er die Wahrheit herausgefunden. Es gab nur zwei Menschen, die diese abscheulichen Verbrechen begangen haben konnten, und Martin wusste ganz sicher, dass er es nicht gewesen war.
    »Nun«, sagte Evie und schrieb mit ihrem funkelnden, goldenen Füller »Kapitel zwölf« oben auf die Seite. »Mein Lektor meint, ich sollte ein bisschen mehr über deine Kindheit direkt nach dem Tod deines Vaters schreiben. Du glaubst noch immer, dass du daran schuld warst, oder?« Sie wirkte erwartungsvoll. Martin nickte. »Was ist mit der Zeit, als ich dich in meiner Unterwäsche fand?«
    »Das stimmt doch gar nicht, das ist nie passiert!«, schrie er, weil er Angst hatte, dass die anderen
Gefangenen es vielleicht mitbekommen hatten. »Das kannst du nicht schreiben!«
    Sofort erschien ein Wachmann. »Dreh mal die Lautstärke runter, Martin.«
    Martin nickte und faltete unter dem Tisch die Hände. Hier drinnen standen alle auf der Seite seiner Mutter. Sie hatte sie alle getäuscht.
    »Mutter«, setzte Martin an. »Warum erzählst du ihnen nicht, dass du mir immer Sachen gekauft hast, die mir zu groß waren, sodass ich in der Schule immer ausgelacht wurde?«
    Sie tat es mit einer Bewegung ihrer perfekt manikürten Hand ab. »Das tun alle Mütter. Kinder wachsen so schnell, dass man gar nicht nachkommt.«
    Die Wache ging hinter Martin auf und ab, offensichtlich meinte der Mann, Evelyn beschützen zu müssen. Martin hielt den Mund. Er hatte zu dem Thema nichts mehr zu sagen. Diskutieren brachte nichts, weil sie nur argumentieren würde, es sei doch nicht ihre Schuld gewesen, dass Martin nicht wuchs. Die zu großen Schuhe, die schlabbernden Hosen, die weite Unterwäsche, die man sich leicht irgendwo einklemmte - all dies würde gegen Martin gewendet werden, sodass er plötzlich selber daran schuld war.
    »Was ist mit Männern?«, fragte sie mit fröhlich
beschwingter Stimme. »Hast du hier drinnen jemanden?«
    Martin starrte sie nur an und lauschte den Schritten des hinter ihm auf und ab gehenden Wachmanns.
    »Also, ich gebe mir doch Mühe, Martin. Das tue ich wirklich. Ich komme dich besuchen, ich rede mit dir. Ich versuche, dir ein bisschen Glück in dein Leben zu bringen …« Sie wartete, bis die Wache vorbeigegangen war, beugte sich dann vor und zischte: »Hör zu, du kleiner Scheißer. Wenn du es hier drinnen so sehr hasst, dann sage ihnen die Wahrheit. Ist es das, was du willst? Was meinst du, wie interessiert deine teure Detective noch sein würde, wenn sie wüsste, dass du ein ganz normaler, alltäglicher Spießer bist, der keiner Fliege was zuleide tun kann, und natürlich liebe ich dich, Martin. Ich könnte dich nie hassen. Ich hasse deine Verbrechen, aber du wirst immer mein Sohn bleiben.«
    Martin seufzte. Die Wache war zurück. Er wartete, bis der Mann wieder umdrehte und in die andere Richtung ging. »Sag mir, wie du es getan hast«, sagte er. »Ich habe dich doch im Bett gesehen, als ich aus dem Massagesalon zurückkam.«
    »Massage?« Ihr Auge zuckte, als ihr Hirn den Befehl schickte, die Augenbrauen zu heben, und
umgehend erfuhr, dass das Botox den Nerv gelähmt hatte.
    »Hab mir einen runterholen lassen«, seufzte er. Seine Sprache war im Gefängnis derb geworden, aber man konnte nicht zusehen, wie ein Mann ein Stilett aus seinem Rektum zog und einen anderen Mann damit erstach, und
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