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Lockende Kuesse

Lockende Kuesse

Titel: Lockende Kuesse
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    1
     
    Die kleine Kitty Rooney saß auf einem Hocker, zwei halb verfaulte Kartoffeln und eine halbe Möhre auf dem Schoß, die sie angeekelt betrachtete. Dann seufzte sie und begann die verrotteten Teile wegzuschneiden, den Rest in Stücke zu schnippeln und in einen schwarzen Eisenkessel zu werfen. Besorgt blickte sie dabei immer wieder auf das spärliche Herdfeuer, das jede Minute auszugehen drohte. Ihr Großvater, ein alter Zigeuner, den jedermann nur Swaddy nannte, saß still in der Kaminecke. Sein goldener Ohrring funkelte in den schwachen Flämmchen. Da ging die Tür der kleinen Hütte krachend auf, und Wind und Regen stoben herein. »Terrance, dem Himmel sei Dank!«, rief Kitty, »das Feuer ist schon fast aus!«
    Sie hüpfte von ihrem Hocker und half ihrem Bruder, die Torfstücke, die er draußen im Regen gestochen hatte, ins Feuer zu legen.
    »Heilige Maria, du bist ja nass bis auf die Haut.«
    »Allerdings, und ich frage mich, wann dieser verfluchte Regen endlich mal aufhört?«, ärgerte sich Terrance laut.
    »Rutsch mal, Opa, damit Terrance sich ein bisschen aufwärmen kann. Er ist ja klitschnass«, forderte Kitty den alten Mann am Feuer auf.
    »Kitty, ich kann diese doofen Schuhe wirklich nicht mehr anziehen. Die haben solche Löcher, dass ich Blasen krieg.«
    »Ich werde sie flicken, Jungchen, mach dir mal keine Sorgen. Das kann ich nämlich richtig gut«, prahlte Swaddy.
    »Und womit, bitte schön?«, fragte Kitty nicht unberechtigt.
    Terry schüttelte den Kopf. »Ach ja, was beschwere ich mich überhaupt. Du hast ja gar keine Schuhe, Kitty.«
    »Macht doch nichts, ich bin's nicht anders gewöhnt. Außerdem ist doch Sommer, oder?«, meinte sie fröhlich zwinkernd.
    »Sommer! Und wann hast du das letzte Mal die Sonne gesehen? Sag mir das mal, Kitty Rooney. Die Ernten sind schon wieder ruiniert. Die Felder sind so schwarz und nass, dass alles verfault«, beschwerte er sich und klang dabei so bitter wie ein Erwachsener und nicht wie ein elfjähriger Junge.
    »Nun ja, ein Gutes hat der Regen jedenfalls: ich muss kein Wasser vom Fluss zum Kochen raufschleppen, allerdings haben wir sowieso kaum noch etwas zum Kochen«, sagte sie resigniert und hängte den Kessel an einen Haken über das Feuer. »Zum Abendessen gibt's ein bisschen Brühe, aber was wir morgen essen sollen, weiß nur der liebe Gott.«
    »Irgendwas wird sich schon ergeben, Mädel, zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf«, krächzte Swaddy aus seiner Ecke. Bruder und Schwester tauschten viel sagende Blicke, und Kitty verdrehte die Augen.
    Terry wischte sich die triefende Nase am Ärmel ab. »Die haben die Kutsche fertig gemacht, oben beim großen Haus.« Kittys Kopf schoss hoch. »Sie werden wohl nach Dublin fahren, aber warum?«
    »Er selbst wird wohl kommen, schätze ich«, erwiderte er mit einem Schulterzucken.
    Kitty nahm ihr Wolltuch vom Haken hinter der Tür und legte es sich über den Kopf. »Wartet hier, bin gleich wieder da.« Und schon lief sie barfuß in den prasselnden Regen hinaus.
    Kitty hatte schon immer auf dem vierhundert Hektar großen Anwesen des Gutsherrn O'Reilly gelebt, das dreißig Meilen von Dublin entfernt im County Kildare lag. Der Landsitz der O'Reillys wurde Castle Hill genannt, eine Herde prächtiger Charolais-Kühe und ein Stall voll herrlicher Vollblüter gehörten dazu. Jonathan O'Reilly war ein reicher Mann, der mehrere Webereien drüben in England rund um Lancashire besaß und sein Anwesen in Irland nur im Sommer besuchte. Doch Castle Hill wurde das ganze Jahr über von der Dienerschaft bewohnt. Gärtner und Bauern bewirtschafteten das Land und wohnten in O'Reillys Cottages. Die Rooneys gehörten nicht zur Dienerschaft der O'Reillys, sondern waren Zigeuner, die sich einst auf dem Land niedergelassen hatten und seitdem dort geduldet wurden. Kittys Mutter war bei Terrances Geburt gestorben und ihr Vater, ebenfalls ein Zigeuner, war in seinem Kummer nicht mehr in der Lage gewesen, für das Auskommen der Familie zu sorgen. Eines Nachts war er ohne ein Wort des Abschieds verschwunden und hatte die beiden kleinen Kinder beim Großvater zurückgelassen, der sich unversehens mit der Aufgabe konfrontiert sah, für ihr Überleben zu sorgen. In jener Nacht hatten sie ihre Zelte an dem Fluss Liffey aufgeschlagen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, und sie lebten noch immer hier.
    Kitty kauerte sich im Regen an die Scheunenwand. Mucksmäuschenstill hockte sie dort, bereit, notfalls den ganzen Tag zu warten.
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