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Unverstanden

Unverstanden

Titel: Unverstanden
Autoren: Karin Slaughter
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aufgeben müssten, dass die Gesundheitsversorgung, die für viele bereits jetzt unerschwinglich war, sehr bald für die allermeisten unerreichbar sein würde. Keiner kümmerte sich um die Lebensentwürfe, die er oder sie auf ihrem Weg zum Millionärsdasein zerstörte.
    Sollten sie doch darüber nachdenken, während sie eineinhalb Stunden nach Rollins fuhren, die nächste Stadt mit einem Kinderarzt.

    Sara ließ die Lichter aus, als sie durch die Lobby der Klinik ging. Trotz der kühlen Oktoberluft war das Gebäude warm, und sie zog ihre Kostümjacke aus und legte sie auf die Empfangstheke, bevor sie zum Waschraum ging.
    Das Wasser aus dem Hahn war eiskalt, und Sara beugte sich über das Becken, um ihr Gesicht zu benetzen, den Dreck abzuwaschen, der ihr die Haut verklebte. Sie wollte ein langes Bad und ein Glas Wein, aber das waren Dinge, die sie nur zu Hause bekommen konnte, und im Augenblick wollte sie nicht nach Hause. Sie wollte allein sein, ihr Selbstwertgefühl wiederfinden. Gleichzeitig wünschte sie sich zu ihren Eltern, die in diesem Augenblick irgendwo in Kansas waren, genau in der Mitte ihres seit langem geplanten Trips quer durch Amerika. Tessa, ihre Schwester, war in Atlanta und nutzte dort endlich ihren College-Abschluss, indem sie Obdachlose beriet. Und Jeffrey … Jeffrey war zu Hause und wartete, dass Sara von der Anhörung zurückkehrte und ihm erzählte, was alles passiert war. Vor allem mit ihm wollte sie jetzt zusammen sein, aber andererseits wollte sie gerade ihn überhaupt nicht sehen.
    Sie starrte ihr Spiegelbild an und bemerkte schockiert, dass sie sich nicht mehr erkannte. Ihre Haare waren straff am Hinterkopf zusammengefasst,
und als sie vorsichtig das Band herauszog, zuckte sie vor Schmerz zusammen, weil sie dabei einige Haare ausriss. Ihre gestärkte, weiße Bluse zeigte ein paar Wasserflecken, aber Sara war es egal. Sie kam sich lächerlich vor in diesem Kostüm, das wahrscheinlich das teuerste Kleidungsstück war, das sie je besessen hatte. Buddy hatte darauf bestanden, dass sie sich das schwarze Kostüm nach Maß schneidern ließ, damit sie bei der Anhörung aussah wie eine reiche Ärztin und nicht wie die Tochter eines Kleinstadtklempners, die Kinderärztin geworden war. Sie dürfe in diesem Gerichtssaal ruhig sie selber sein, hatte Buddy ihr gesagt. Sie dürfe Sharon Connor ihr wahres Wesen zeigen, aber erst dann, wenn es der Gegenseite am meisten schadete.
    Sara hasste dieses doppelte Spiel, hasste es, sich als Teil ihrer Verteidigungsstrategie in eine männlich wirkende, arrogante Kuh verwandeln zu müssen. In ihrer ganzen Karriere hatte sie sich geweigert, ihre Weiblichkeit zu verleugnen, nur damit sie in die Männerdomäne der Medizin passte. Und jetzt hatte ein Gerichtsverfahren sie zu all dem gemacht, was sie verachtete.
    »Alles okay?«
    Jeffrey stand in der Tür. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug mit dunkelblauem Hemd und
Krawatte. Sein Handy klemmte an der einen Seite seines Gürtels, sein Waffenholster an der anderen.
    »Ich dachte, du bist zu Hause.«
    »Hab mein Auto in die Werkstatt gebracht. Was dagegen, mich mitzunehmen?«
    Sie nickte und lehnte sich mit der Schulter an die Wand.
    »Hier.« Er hielt ihr ein Gänseblümchen hin, das er wahrscheinlich im überwucherten Hof gepflückt hatte. »Das habe ich dir mitgebracht.«
    Sara nahm die Blume, die kaum mehr als Unkraut war, und legte sie auf den Beckenrand.
    »Willst du darüber reden?«
    Sie schob das Gänseblümchen hin und her und legte es schließlich rechtwinkelig zum Hahn. »Nein.«
    »Willst du allein sein?«
    »Ja. Nein.« Schnell schloss sie die Distanz zwischen ihnen, legte ihm die Arme um die Schultern und drückte ihr Gesicht an seinen Hals. »Mein Gott, es war so furchtbar.«
    »Das kommt schon alles wieder in Ordnung«, erwiderte er tröstend und strich ihr mit der Hand über den Rücken. »Lass dich von denen nicht fertig machen, Sara. Lass dir von ihnen nicht dein Selbstvertrauen nehmen.«
    Sie presste sich an ihn, weil sie den Trost seines
Körpers an ihrem brauchte. Er war den ganzen Tag auf dem Revier gewesen und roch nach dem Bereitschaftsraum - diese merkwürdige Mischung aus Waffenöl, verbranntem Kaffee und Schweiß. Da ihre Familie verstreut war, war er im Augenblick die einzige Konstante in ihrem Leben, der einzige Mensch, der ihr helfen konnte, wieder zu sich zu finden. Wenn Sie es sich genau überlegte, war das seit sechzehn Jahren so. Auch als sie sich von ihm hatte scheiden lassen, auch
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