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Unverstanden

Unverstanden

Titel: Unverstanden
Autoren: Karin Slaughter
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noch bei ihr) und ließ sich unverblümt über seine Unzulänglichkeiten aus.
    »Ach, du meine Güte, ich glaube, du hast letzte Nacht noch mehr Haare verloren.«
    »Lieber Gott, du solltest mal diese Speckrolle sehen, die dir da über den Gürtel hängt.«

    »Weißt du, es gibt Frauen, die man für ihre Gesellschaft bezahlen kann.«
    Evelyn Reed war auf den ersten Blick der Prototyp der netten, alten Dame. Bis sie den Mund aufmachte. Wie Martin war auch sie eine Außenseiterin. Im Gegensatz zu Martin jedoch gab sie anderen die Schuld dafür und kam nicht einmal auf den Gedanken, dass es eine direkte Folge ihrer abstoßenden Persönlichkeit sein könnte. Meistens betrachtete er sie als grässlichen Troll, der es ihm verwehrte, die Brücke in ein neues, aufregenderes Leben zu überqueren. Manchmal fühlte er sich aber auch großherziger und sah sie nur als eine alte Frau, die hoffentlich bald sterben würde, damit er ein neues, aufregenderes Leben führen konnte.
    Viele seiner häufig wiederkehrenden Träume endeten glücklich damit, dass seine Mutter in irgendein Jenseits hinüberwechselte. Während er seinen Frühstücksspeck kaute oder seinen Dörrpflaumensaft trank, sah er sich selbst als Figur in einem Buch; irgendeine Gesellschaftskomödie mit mörderischen Untertönen. Exemplarische Szenen, allerdings ohne Happy End. Seine Gedanken wären kursiv geschrieben. Was er sagte, in Anführungszeichen. »Mutter, kannst du mir bitte das Buttermesser reichen?« Würdest du es dir bitte zuvor in die Brust rammen?

    Evie Reed war zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben eine attraktive Frau gewesen, einer Zeit allerdings, die überraschenderweise völlig undokumentiert geblieben war. Es gab keine Fotos, die diese große Schönheit zeigten, keine Zeugen, die ihre Aussagen bekräftigten. Auch der Gutgläubigste hatte Schwierigkeiten mit ihren Behauptungen, wenn er sie jetzt sah, mit ihren grauen Haaren in einem perfekten Knoten und einer großen Warze mitten auf der Stirn, bei der einem unweigerlich der Begriff »haariger Augapfel« einfiel. Wie bei vielen Behauptungen, die seine Mutter aufstellte, sollte der Zuhörer glauben, ohne auch nur den geringsten Beweis geliefert zu bekommen. Als wäre die kettenrauchende, vogeldünne, giftspritzende Frau, die, ihre spindeldürren Beine fest übereinandergeschlagen, Zeitung lesend dasaß, irgendwann einmal eine zweite Jean Harlow gewesen!
    »Ich sag dir was, Martin.« Sie klemmte ihre Zigarette in den Mundwinkel. Die Kippe hüpfte, wenn sie sprach, eine dünne Rauchfahne quoll aus ihrem geschwärzten rechten Nasenloch. »Zu meiner Zeit war ich eine echte Schau.«
    »Kann ich mir vorstellen.« Mit »deiner Zeit« meinst du wohl das Mesozoikum.
    Sie schnupperte, als hätten vierzig Jahre Mentholzigaretten ihr nicht längst den Geruchssinn
weggebrannt. »Du hast doch nicht getrunken, oder?«
    Er atmete tief durch, bevor er antwortete. »Nein, Mutter. Ich habe nicht getrunken.«
    Sie schaute enttäuscht, wie er es erwartet hatte. Nachdem man sie aus ihrer Kirchengruppe verstoßen hatte, weil sie bei den Freiwilligen Pflegehelferinnen für Aufruhr gesorgt hatte (»Als würde ihre Scheiße nicht stinken!«), hatte sie sich darauf verlegt, die Kleinanzeigen zu studieren, weil sie hoffte, so eine neue Gruppe zu finden, der sie sich anschließen konnte. Sie wartete verzweifelt darauf, dass Martin sich eine schreckliche Krankheit einfing oder eine Sucht nach irgendeiner Substanz entwickelte - legal, illegal, ganz egal -, wofür es eine Selbsthilfegruppe gab, am liebsten eine in der Nähe, weil sie nachts nicht Auto fahren durfte. Sie hatte sogar angefangen, ihre diversen Medikamente auf der Küchenanrichte stehen zu lassen, als wollte sie ihn in Versuchung führen.
    »Schau mal hier«, sagte sie und zeigte auf eine Anzeige. »Da gibt es ein P-Flag-Treffen am Lawrenceville Highway.« Sie starrte ihn über die Zeitung hinweg mit hoffnungsvoll hochgezogenen Augenbrauen an.
    Martin spürte seine Seele schrumpeln wie biologisch abbaubare Folie in einer Wasserpfütze.
P-Flag war eine Selbsthilfegruppe für Eltern und Freunde von Schwulen und Lesben.
    »Hier heißt’s, es werden Erfrischungen gereicht.« Ihre Augen begannen zu funkeln. »Meinst du, das heißt auch, es gibt was Kleines zu futtern?« Sie kicherte, weil ihr etwas einfiel. »Bestimmt nur Süßes mit rosa Glasur.«
    Martin kratzte die letzten Reste seiner Selbstachtung zusammen. »Ich bin nicht schwul, Mutter.«
    Sie starrte ihn beinahe
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