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Unverstanden

Unverstanden

Titel: Unverstanden
Autoren: Karin Slaughter
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Omi in die Luft. Er segelte direkt nach oben und dann ebenso direkt wieder herunter. Martin wäre beinahe über die eigenen Füße gestolpert, als er ihm auswich, weil er direkt auf sein Gesicht zustürzte. Martin fluchte und probierte es noch einmal, warf ihn leicht schief und versuchte, genauer zu zielen. Diesmal landete er vor seinen Füßen, auf einer Kante, die vom harten Beton gestaucht wurde.
    Nun stand er, die Hände in die Hüften gestützt, da, starrte den Aktenkoffer auf dem Boden an und spürte, wie die Versagergeschichte seines Lebens in ihm hochkochte. Es war nicht nur, dass er sich hatte bequatschen lassen, einen Lederpreis für Vinyl zu zahlen. Es war der »Schlappschwanz« auf seinem Auto. Es war die kaputte Stoßstange. Es war Daryl, der ihn Zinken nannte, und seine Mutter, die ihm Schwulsein unterstellte.
    Martin trat nach dem Aktenkoffer. Es tat ihm so gut, dass er noch einmal zutrat. Bald hüpfte Martin auf dem Aktenkoffer herum und zertrampelte ihn
so gut er konnte. Dann packte er den zerdepperten Koffer und schlug ihn mehrmals gegen den Müllcontainer, bis er vor Erschöpfung aufhören musste. Martin bückte sich und keuchte. Er schwitzte in seinem Kurzmantel. Schweiß lief ihm den Rücken hinunter.
    Die Tür ging auf. Eine Fließbandarbeiterin kam heraus, Zigarette im Mund, Feuerzeug in der Hand. Die beiden waren sich nie offiziell vorgestellt worden, doch das schien sie nicht daran zu hindern, ihn ganz ungezwungen zu fragen: »Was zum Teufel treibst du denn da?«
    »Kümmer dich um deinen eigenen Kram«, sagte er und hob das Wrack des Koffers auf. Er schaute zu dem Container hoch, doch mit einem Zeugen wagte er keinen weiteren Versuch. Er nahm seine Unterlagen und die anderen Sachen unter den Arm und ging um das Gebäude herum. Einige Minuten später stand er wieder vor seinem Auto. Er schloss den Kofferraum auf und legte den kaputten Aktenkoffer neben die Stoßstangenhälfte. Martin schaute zum bewölkten, grauen Himmel hoch. Noch nicht einmal neun Uhr und bereits zwei Schicksalsschläge. Wie würde dann erst der dritte aussehen?
    Plötzlich öffneten sich die Wolken, ein Sonnenstrahl spähte hervor. Martin schloss die Augen gegen das Licht. Ohne Vorwarnung erfüllten plötzlich
die freudvollen Klänge des Harlem Gospel Chor die Luft. » Lord, lift me up! Take me hi-yi-yiigher!«
    Der Gesang hörte abrupt auf, als der Motor des schwarzen Monte Carlo abgestellt wurde, der in die Bucht neben Martins Camry gefahren war.
    »Was treibst’n da, Trottel?« Unique Jones knallte die Fahrertür zu, den Schlüsselbund in einer Hand, einen großen Mokka-Latte in der anderen. Ihre Handtasche hatte die Größe eines Futtermittelsacks, der Riemen schnitt in den fleischigen Teil ihrer nackten Schulter. Trotz der kühlen Luft trug sie ein enges, leuchtend orangefarbenes Sommerkleid mit dazupassenden orangefarbenen Schuhen. Unique war eine kräftige, große, schwarze Frau, die ihre dunkle Haut gern mit farbenfrohen Schals und glitzerndem Nagellack betonte. Manchmal trug sie auf dem Kopf auch einen Turban. An anderen Tagen ließ sie ihre raffiniert geflochtenen Zöpfe auf die Schultern fallen. Schon an dem Tag, als sie das Gebäude zum ersten Mal betrat, hatte sie Martin eine Heidenangst eingejagt.
    Martin stammelte: »Ich … ich …«
    »Klappe, Teiggesicht. Wir haben was zu tun.«
    Sie redete mit ihm, als wäre sie seine Chefin, dabei war es genau andersherum. Respekt hatte sie ihm nur ein einziges Mal erwiesen, als sie bei
ihrem Einstellungsgespräch vor ihm saß. »Es ist Unique mit einem Akzent auf dem e«, hatte sie ihn höflich korrigiert. Martin hatte auf ihr Bewerbungsformular geschaut, auf dem ihr Name stand, Unique Jones, und sich gefragt, welches »e« sie meinte. Martin war verwirrt. War das Französisch? Vielleicht Jo-nee?
    »Ju-nie-kay«, hatte sie ihm lachend erklärt. »Schon okay, Baby, am Anfang kapiert das keiner, aber wer’s erst mal kapiert hat, der vergisst’s nie wieder.«
    Er hatte sie angelächelt und dabei gemerkt, dass man ihn zum ersten Mal Baby genannt hatte, ohne es abwertend zu meinen. Uniqué also, Unique hätte ihm besser gefallen, denn ein Unikat war diese Frau wirklich.
    Wie auch immer. Diese Unique war eine Highschool-Abbrecherin, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss hatte. Was sie vorweisen konnte, war ein einmonatiger Sekretärinnenkurs und zwei Monate eines Buchhaltungskurses. »Ich habe alles gelernt, was ich brauche«, klärte sie ihn auf. »Entweder du hast
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