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Unverstanden

Unverstanden

Titel: Unverstanden
Autoren: Karin Slaughter
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sie abscheuliche Arbeitsgewohnheiten. Kaum saß sie an ihrem Platz, hatte sie ihr Handy an einem Ohr und das Geschäftstelefon am anderen. Dann redete sie gleichzeitig mit ihrer Schwester, die in einem kirchlichen Büro arbeitete, und mit Kunden, die in der anderen Leitung warteten. Unterdessen klickerten ihre lackierten Fingernägel über die Tasten wie die Pfötchen eines Chihuahuas auf Fliesenboden, während ihre Haare klapperten wie die Rassel einer Gummischlange. Ungefähr sechzigmal am Tag schmierte sie sich die Hände und manchmal auch die Füße mit Lotion ein. Als Martin sie nur ein einziges Mal höflich bat, sich für
diese Prozedur doch bitte einen angemesseneren Ort zu suchen, schrie sie empört: »Was kann ich denn für meine trockene Haut?«, und damit war die Angelegenheit erledigt.
    Als großbusige Frau mit imposanter Taille musste sie sich am Schreibtisch mit einer gewissen Umsicht bewegen. Völlig fasziniert hatte Martin beim ersten Mal zugeschaut, wie sie Brust, Bauch und Arme so anordnete, dass sie die Computer-Tastatur erreichen konnte. Sie hatte sein wissenschaftliches Interesse als ungezügelte Lust missverstanden und ihn ermahnt: »Honey, du hast nicht den Schmackes, um diese Glocken zu läuten!« Dann musste er zuhören, wie sie diese Geschichte ihrer Schwester erzählte, deren »Amen« aus dem Hörer durch den Raum hallte.
    Das waren keine isolierten Ereignisse, sondern alltägliche Vorfälle. Martin lebte in ständiger Angst vor ihren Sprüchen, die sie normalerweise in gemischter Gesellschaft zu den unpassendsten Augenblicken von sich gab. Da ging er zum Beispiel mit einem Arbeiter einen Schichtplan durch, und sie rief ihm zu: »Du kapierst ja gar nicht, was er sagt, du Trottel!« Oder Norton Shaw kam herunter, um Außenstände zu kontrollieren, und sie rief: »Gehen wir nach draußen. Er hat Blähungen von seinem Lunch.«

    Manchmal erinnerte sie ihn an die Geraldine-Puppe, die seine Mutter ihm als kleinem Jungen zu Weihnachten geschenkt hatte. Flip Wilson war auf der einen Seite und Geraldine, sein transvestierendes Alter Ego, auf der anderen. Wenn man an der Kordel zog, kamen witzige Sprüche heraus wie zum Beispiel: »Der Teufel hat mich dazu verleitet!« oder: »Wenn du heiß bist, bist du heiß!«
    Vielleicht am schlimmsten und noch demütigender, als ihr zuhören und zusehen zu müssen, wie sie bei ihrer Schwester über Menstruationskrämpfe jammerte und dabei die Schuhe auszog und sich die Füße einschmierte, war die Art, wie sie sich selber vermarktete. An ihrem ersten Tag hatte Martin ihr törichterweise erlaubt, sich ihre Visitenkarten selbst zu bestellen. Im Verlauf von drei Jahren war aus der ursprünglichen »Buchhaltungsassistentin« zuerst eine »Buchhalterin« und dann eine »Buchhaltungsleiterin« geworden. Inzwischen erwartete er täglich eine Karte zu sehen, auf der stand: »Unique Jones, Leitung Finanzen«.
    Auf Martins Karte dagegen stand ganz schlicht: »Buchhaltung.« An seinem ersten Tag hatte er tausend Stück bestellt. Sechzehn Jahre waren vergangen, und der Karton war noch immer halb voll.
    Draußen war Unique inzwischen vor dem
Haupteingang stehen geblieben. »Deine Mutter hat dir wohl nicht beigebracht, dass man einer Dame die Tür öffnet?«
    Erst während Martin ihr die Tür öffnete, fiel ihm eine witzige Erwiderung ein, doch bis er den Mund aufbrachte, war sie schon fast bei ihrem Schreibtisch.
    Sie sagte: »Nicht nuscheln, Trottel«, und warf ihre Handtasche auf den Schreibtisch. Als sie sich hinsetzte, machte ihr Stuhl ein Geräusch wie zwei aneinanderstoßende Billardkugeln.
    Martin legte seine Visitenkarten, die Kulis, den Notizblock und seine Unterlagen leise auf seinen Schreibtisch. Sein Stuhl machte kein Geräusch, als er sich setzte und den Computer einschaltete. Als er bei Southern Toilet Supply zu arbeiten angefangen hatte, war das einzige elektrische Hilfsmittel eine IBM Selectric gewesen, bei der das »g« und das »l« hingen, egal, wie oft man die Typen auch reinigte.
    Alle Bücher wurden damals von Hand geführt - Martins Hand. Den ganzen Tag über kamen die Leute aus der Fabrik ins Büro und winkten oder lächelten Martin schnell zu. Mr. Cordwell, der Besitzer, kam gelegentlich vorbei und redete mit ihm übers Angeln oder einen Wochenendausflug mit der Familie an den See. Martin nickte dann, und
Mr. Cordwell ging auf die Toilette (die man nur durch Martins Büro erreichte) und wenn er zurückkam, warf er das Papiertuch, mit dem er sich die
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