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Untitled

Untitled

Titel: Untitled
Autoren: Joachim Bessing
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bleiben. Ich verschwinde aus seinen Erinnerungen wie aus allen Fotografien gestanzt.
    So war das mit allen zuvor, so wird es mit Senta Kustermann sein, aber ich nehme mir fest vor, ihr alles genau zu erklären. Mir graut schon davor. Aber ich will unbedingt zu einem besseren Menschen werden. Ich will so sein, wie ich mich fühle, seit ich Julia traf: liebenswert und schön und gut. Vor allem: wahrhaftig. Wenn möglich auch mit bedeutend mehr Mut. Denn feige bin ich wohl. Einerseits wünsche ich mir eine Falte in der Zeit, die mir hier noch viel länger, auf der anderen Seite des Planeten, einen Aufschub gewährt; andererseits drängt es mich, zurückzukehren. Denn ich will Julia unbedingt und bald, sehr bald, wiedersehen. In Berlin ist es schon Abend, ich schicke Julia ein Bild meines Zimmers im Standard Hotel, wo ich meine gelben Turnschuhe bis an die deckenhohe Fensterfront geworfen habe. Dort liegen sie dekorativ herum, der Blick geht vom achtzehnten Stockwerk, in dem dieses Zimmer liegt, über das seltsame Oktaedergebilde aus Glas, in dem sich Diane von Furstenbergs Studio befindet, auf das unverstellte Panorama von Uptown: Chrysler Building, Empire State, Maritime Hotel, ein Star Spangled Banner im Frühlingssturm – es ist alles vorhanden und da. Im Fenster des Ladens von Alexander McQueen, der sich vor wenigen Tagen in dem begehbaren Kleiderschrank seines Londoner Hauses aufgehängt hatte, steht ein gewaltiger Strauß weißer Lilien. Auf dem Bürgersteig davor liegen bunte Sträuße in Zellophan. Es ist Fashion Week, als Nächstes wird sich in der ersten Märzwoche Mark Linkous umbringen – nach dem Mittagessen entschuldigt er sich, verzieht sich hinter die Garage des Familienanwesens in Kentucky und schießt sich ins Herz. Ich lege ein Buch von Sven Hillenkamp aufden Nachttisch und schicke ein Foto des Ensembles an J. Das iPhone steckt im Weckradio und im Nachhinein ist es unheimlich: ein Download jenes damals noch unveröffentlichten Albums, das Mark Linkous mit Danger Mouse und David Lynch aufgenommen hat, das ich auf voller Lautstärke spielen lasse: Little Girl heißt das Stück, das von Julian Casablancas gesungen wird. Er quäkt:
    A trick that people use to make you
think they’re smart
Is confidence when actually
they’re lost in the dark.
    Und sie schickt mir ein iTunes Geschenk von den Strokes, Trying your Luck, wo Julian Casablancas singt:
    And I’ve lost my place. Again.
I know this is surreal. But, I’ll try my luck with you.
This life is on my side.
Well, I am your one?
    Und von dieser wahrlich surrealen Koinzidenz kann sie, J, nichts wissen, das ergibt einen magischen Effekt, er wurde in der Nacht unseres Kennenlernens begründet. Aberglaube ist etwas Herrliches, hat man sich dazu erst einmal bekehren lassen, und ich nehme den Song mit hinunter in die Straßen und höre ihn stundenlang, während ich zunächst die Gansevoort Street hinunter und dann die Mercer Street entlang durch das SoHo spazieren gehe, er wird zu einer Zwiesprache mit ihr, Julia Speer, ich spinne mich ein in ein Erleben mit ihr. Zu Senta Kustermann fällt mir nichts ein, ich verstumme ihr gegenüber. Heute zumindest. Könnte doch am Jetlag liegen? Egal.

    Ich kenne all die Läden hier, aber mir fallen neue Details auf: eine Reihe Frisierköpfe aus Styropor, in blassen Metallictönen angesprüht. Eine lila flimmernde Neonröhre, hauchdünn, zu einem Herz gebogen, hängt im dunklen Fenster einer ansonsten schwarz lackierten Tür. Ich mache Fotos mit dem iPhone und schicke sie an J. Für Senta bleibt kaum etwas übrig. Ich schreibe ihr schließlich eine Nachricht, die eine bemüht originelle Beobachtung zum Inhalt hat, und so komme ich mir auch vor: schäbig. Einer Pflicht nachkommend nämlich, derer ich mich eigentlich entledigt habe. Auf Julia muss ich mich nicht konzentrieren. Die Ideen schäumen. Es zieht mich alles zu ihr hin.
    Das Gelb der Taxis, das Geräusch der Sirenen, die Helikopter über dem Hudson River, die hohen Häuser sind die Bestandteile des Bildes, das permanent in Erinnerung bleibt. Andere nicht wenig prägnante Details fallen mir erst wieder ein, wenn ich sie vor mir sehe: Die vielfach übereinanderliegenden Zeichen und Markierungen, die, in bunten Lackfarben auf den Asphalt gesprüht, wahrscheinlich von künftigen Arbeiten am Sielsystem künden – wahrscheinlich, ich habe mich noch nie bemüht, den Hintergrund zu recherchieren. Ich weiß auch nicht, wozu in Berlin die himmelblauen und rosafarbenen
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