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Unter Menschen

Unter Menschen

Titel: Unter Menschen
Autoren: Isabell Schmitt-Egner
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das beste Geschenk wäre, ihn an seinem Geburtstag in Ruhe zu lassen.
    „Mistkerl“, murmelte Sam. Das war eins von Bills Lieblingsworten. Normalerweise sagte Sam keine menschlichen Schimpfworte, da George und Vivian das nicht mochten. Aber es fühlte sich gut an.
    „Blumenmörder.“
    Sam atmete einmal durch.
    Sogar Greg hatte er gerettet, der ihm Gewalt angetan und den er früher sogar gefürchtet hatte. Warum fiel es ihm jetzt so schwer, den Blumenmörder Neill zu verschonen?
    Greg hatte ihn aufgefordert zu sprechen und Worte waren in seinem Kopf entstanden. Das hatte ihm wirklich geholfen, eine Entscheidung zu treffen, denn der Gedanke, Greg zu ertränken, hatte sich auch damals in ihm gemeldet. Nur, dass das Gefühl heute viel stärker war. Schwerer zu unterdrücken. Sam startete einen Versuch, um zu sehen, wie er sich dann fühlen würde.
    „Als Sternzeichenträger, Praktikant und Testsohn ist es meine Pflicht, dich zu retten, weil Pflichten Dinge sind, die man tun muss, obwohl man keine Lust dazu hat“, sagte Sam laut zu dem halb Bewusstlosen. Das klang sehr offiziell. Und wichtig.
    „Zu meinem Praktikum gehört das Retten von zu stark gewässerten Menschen.“ Auch das klang gut. Sam schüttelte Neill ein wenig.
    „Es stimmt nicht, dass ich George lästig bin. Er will mich bei sich haben. Auch am Geburtstag. Hörst du, was ich sage?“
    Neill hing immer noch schlapp in seinem Griff und Sam fühlte, wie das wilde Gefühl in ihm ein wenig schwächer wurde. Der Drang, Neill unter Wasser zu ziehen und dann in den Sand zu drücken, ließ nach. Ja ... es war richtig, Neill nicht ertrinken zu lassen. Es war seine Pflicht. Aber ein bisschen lästig war es auch. Pflichten waren oft lästig. Das gehörte dazu. Laine hatte keine Lust, ihr Zimmer zu saugen und er hatte keine Lust, Neill über Wasser zu halten. Sam wünschte, Neill würde sich endlich selbst an den Felsen klammern, ohne dass er ihn festhalten musste.
    „Da ist ein Hai“, flüsterte Neill. „Ein Hai hat mich gebissen. Ich sterbe.“
    „Nein, da ist kein Hai“, antwortete Sam. „Ich hab keinen gesehen.“
    Neill schluchzte.
    „Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.“
    Sam dachte nach und fällte eine Entscheidung.
    Er würde Neill zum Ufer bringen und eine Stelle finden, wo er ihn ablegen konnte. Dann blieb ihm selbst noch etwas Zeit zum Toben, Wellenkämpfen und ... Sam lief es kalt über den Rücken. Das Geschenk! Er hatte noch kein Geschenk! Der Grund, weshalb er überhaupt hier war! Er sirrte und zog Neill von dem Felsen weg.
     
     
    „Da ist es“, rief Vivian und George fuhr auf den Seitenstreifen hinter der Bushaltestelle. Sie hatten beschlossen, es hier zuerst zu versuchen. Es war die Endhaltestelle auf Neills Route und bot einen direkten Zugang zum Strand. Jerry war ebenfalls auf dem Weg zu ihnen, aber es würde noch einige Minuten dauern, bis er eintraf.
    George sprang aus dem Wagen und schlug die Tür zu. Der kleine Pfad führte zu einer Felsenansammlung und sie würden klettern müssen. George erklomm einen möglichst guten Aussichtspunkt und hob Bills Fernglas vor die Augen, das er sich geliehen hatte. Er suchte das Wasser ab, während Vivian bereits mit dem Abstieg begann. Die Flut hatte die meisten Felsen unter sich begraben und es gab kaum noch Möglichkeiten, sich an der stark abschüssigen Wand entlang zu hangeln.
    Eine Bewegung im Wasser erregte seine Aufmerksamkeit. Fast hätte er geschrien, als er Sam mit dem leblosen Körper im Arm erkannte.
    Nein, dachte George. Das hast du nicht getan. Das hast du bitte, bitte nicht getan.
    „Vivian!“, schrie George seiner Frau zu. Ihr Kopf flog hoch. Er wies in die Richtung, in der er Sam entdeckt hatte und kletterte hinter ihr her.
    „Was ist?“, rief Vivian atemlos. „Siehst du sie?“
    „Ja, es sind beide!“ George sprang über die Felsen und erreichte ihre Position. „Liebes, wir müssen uns auf das Schlimmste einstellen.“
    Vivian sah ihn schweigend an.
    „Das kann ich Rita niemals erklären. Niemals. Ich habe komplett versagt. Marc hatte recht. Ich habe mir eingebildet, mit Sam umgehen zu können. Er ist ein Instinktwesen. Wenn Neill tot ist, ist es meine Schuld, nicht seine. Es ist meine Schuld.“
    Vivian nahm sanft seine Hand und drückte sie. Dann zog sie George mit sich.
     
     
    Sam bemühte sich, Neill nicht zu viel Wasser schlucken zu lassen, während er in der unruhigen Brandung nach einem Platz am Ufer Ausschau hielt, der geeignet war. Sobald er
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