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Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)

Titel: Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
Autoren: Ildikó von Kürthy
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fährt mit ihnen besser in ein Camp als in ein feines Hotel. Jungen sind anstrengender als Mädchen. Stillzusitzen fällt ihnen schwerer, sie müssen sich mehr bewegen. Viele Jungen malen und schreiben nicht gerne, Mathematik fällt ihnen hingegen oft leichter. Mädchen entwickeln sich stetig aufwärts. Jungs entwickeln sich langsamer, in Schüben und auch mal zurück. Aber: Jungen sind gut so, wie sie sind. Diese allgegenwärtige Stigmatisierung geht mir auf den Senkel. Jungen raufen sich, sagen «Arschloch» und meinen es genau so. Mädchen reißen ihren Puppen heimlich die Haare aus, sind hintenrum und gemein. Es gilt jedoch als ungeschriebenes Gesetz, dass das Mädchenverhalten das richtige ist. Erst ganz allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich nicht die Jungen ändern müssen, sondern zum Beispiel das Schulsystem den Jungen entgegenkommen müsste. Jungs brauchen das Gefühl, in Ordnung zu sein. Dann lernen sie auch, gesellschaftsfähig zu sein. Als Mutter brauchen Sie besonders viel Geduld. Und wenn Ihr Sohn irgendwann auszieht, werden Sie zurückschauen und denken: Aber schön war es doch!
     
    Na also. Und morgen treffe ich mich mit Johanna auf dem Spielplatz. Zum Mädchen-Mütter-Erschrecken.

«Die Beziehung zu Eltern ist, je älter die Kinder werden, umso reiner nur noch Kultur. Natürlich sind nur die Bindungen der Eltern zu den Kindern. Eltern werden nie so selbständig, wie Kinder glücklicherweise werden.»
    MARTIN WALSER
    6. März
    H eute ist der Geburtstag meines Vaters. Jetzt wäre er Großvater, und ich frage mich manchmal, wie er als Opa gewesen wäre. Als Vater war er eine großartige, beeindruckende, intensive Zumutung, Herausforderung und Bereicherung.
    Heute singe ich meinem Sohn dieselben wunderschönen ungarischen Schlaflieder vor, mit denen mein Vater mich beruhigte. Er trug mich Stunde um Stunde durchs Haus, wenn ich zahnte oder fieberte, und sang und sang. Seine Stimme kann ich immer noch hören.
    Mein Vater war Pädagoge. Und als Heranwachsende habe ich mir nicht selten gewünscht, sein Fachgebiet sei der Autohandel, die Teilchenphysik oder das Tischlerhandwerk.
    Denn als einzige Tochter eines Professors für Erziehungswissenschaften bist du quasi das, was für einen Eheberater die eigene Beziehung und für einen Torwart das Tor ist – nämlich der Bereich, in dem er von sich glaubt, sich echt gut auszukennen.
    Dass die Praxis den überragenden Theoretiker oftmals ans Ende seiner Weisheit brachte, war mir als Kind nicht klar. Wenn ich heute in seinen manchmal verzweifelten Aufzeichnungen lese, ahne ich, was da noch auf mich zukommt.
    Irgendwann werden mir die schlaflosen Nächte und die Spielplatzschlachten vorkommen wie das Paradies. Und ich werde mir dieselben peinigenden Fragen stellen, wie sie mein Vater sich stellte, als ich sechzehn und immun gegen jede Form der Erziehung war.
    Der alte, weise Pädagoge schrieb damals:
     
    «Sollte ich nicht aus Sehnsucht nach Harmonie und Eintracht meiner Tochter erlauben, ihren eigenen Weg zu gehen? Früher oder später muss sie das ja doch.
    Aber wann beginnt dieses Früher, und wann wird das Später zum zu spät?
    Soll sie anfangen zu fliegen, sobald sie ihre Flügel benutzen kann? Doch wohin führt sie dann dieser Flug? Vielleicht in die Frostkälte eines vorzeitigen Winters, vielleicht verbraucht sie ihre jungen Kräfte für Dinge, die sie von ihren Lebensaufgaben ablenken?
    Aber – kenne ich denn ihre Lebensaufgaben? Sind das, was ich als solche zu sehen glaube, nicht nur meine eigenen Sehnsüchte und Wunschvorstellungen und entstammen eben nicht ihrer Sehnsucht nach dem Leben?
    Wie kann ich mich in Zukunft verhalten?
    Wohlwollende Distanz wäre eine Haltung, die vielleicht beides beinhaltet: Anteilnahme und Freilassen. Ich glaube, dass es mir mit Hilfe meiner Tochter gelingen wird, diese Haltung einzunehmen.
    Was dabei auf der Strecke bleibt, sind vielleicht manche Träume, die ich im Bezug auf ihre Zukunft hege, doch was dabei gewonnen und langsam am Horizont sichtbar wird, ist die Partnerschaft zweier erwachsener Menschen, die sich in Freundschaft zugetan sind.»
     
    Heute wüsste ich gerne, welche Träume meines Vaters ich erfüllt habe und welche nicht.
    Was ich weiß, ist, dass das mit der «wohlwollenden Distanz» nie funktioniert hat. Dafür war er viel zu eigenwillig und zu emotional. Zum Glück bin ich ihm immer nah und oft zu nah gegangen. Freunde sind wir leider auch nicht geworden. Dafür hätten wir mehr Zeit
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