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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis
Autoren: Gisa Klönne
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Judith erkannte, dass es ihr eigenes Entsetzen war, denn der Junge auf der Matratze war nicht mehr fähig dazu. Tim ist stark, man darf die Hoffnung nicht aufgeben, hat der Psychologe Joachim Wallert gesagt. Aber natürlich trägt er eine schwere Last. Die Bürde der Erinnerung, denkt Judith. Wir können nicht tilgen, was einmal geschehen ist, selbst wenn wir lernen, damit zu leben und nach vorn zu blicken. Wir können weiterleben, aber es bleiben Narben. Vielleicht ist es das, was Charlotte getötet hat, ein Übermaß alter Verletzungen. Der schleichende Verlust von Lebenskraft. Kein Mann, der ihr leere Versprechungen machte und sie dann loswerden wollte. Nicht David.
    Karl-Heinz Müller steht vor dem Rechtsmedizinischen Institut und wirft Boulekugeln ins Kiesbeet. Sie setzt sich auf die Betoneinfassung und schenkt sich einen Schluck von seinem Rotwein ein.
    Der Rechtsmediziner poliert eine Kugel und federt in die Knie. Mit sattem, metallischem Klacken schießt die Boulekugel einen Konkurrenten vom Platz. Karl-Heinz Müller richtet sich auf. »Na?«
    »Ich bin beeindruckt.«
    Er setzt sich neben Judith, zündet sich eine Davidoff an. »Du weißt, dass ich zu deinen Fotos nicht viel sagen kann.«
    »Mehr hab ich nicht. Die Kanadier rücken die Knochen nicht raus.«
    »Die werden ihr Handwerk schon verstehen.«
    »Sie sagen, sie können die Todesursache nicht feststellen.«
    »Haben sie Gewebereste, irgendwelche Weichteile, Knochenbrüche, Einschusslöcher?«
    Judith schüttelt den Kopf. »Charlotte muss wochenlang tot auf dieser Insel gelegen haben.«
    »Todesursache nicht feststellbar.« Karl-Heinz Müller schenkt sich Rotwein nach. »Manchmal, nachts, treiben mich solche Fälle aus dem Bett. Dann fahre ich ins Institut und wühle mich durch mein persönliches Archiv unerledigter Toter.«
    »Ich weiß, was du meinst.«
    »Wenn es hell wird, kenne ich die Todesursache trotzdem nicht.«
    »Vielleicht hat sich Charlotte selbst umgebracht. Ich habe manchmal so komische Träume. Aber sie lag auf der Insel, ihr Kanu am anderen Ufer und sie konnte nicht schwimmen. Also muss jemand sie auf die Insel gebracht haben.«
    »Es könnte ein Unfall gewesen sein. Das Kanu könnte an Land getrieben sein, wo jemand es festmachte. Sie könnte auf der Insel verhungert sein.«
    »Aber warum trug sie keine Kleidung? Und warum hat derjenige, der ihr Kanu an Land zog, sie nicht gesucht?« Judiths Stimme klingt rau. Sie versucht, die Bilder von der Insel beiseite zu drängen. Verhungern, ohne Rettung. Was für ein grausamer Tod.
    Karl-Heinz Müller sieht sie an. »Hier geht es doch nicht nur um deine Schulfreundin, oder?«
    Es geht darum, dass mein verdammter Körper sich immer noch nach dem Mann sehnt, der Charlotte wahrscheinlich umgebracht hat, denkt Judith. Es geht darum, dass etwas in mir einfach nicht glauben will, ein Mann, den ich einmal geliebt habe, sei dazu fähig, eine Frau in der Wildnis verhungern zu lassen. Dabei müsste ich es wirklich besser wissen, das ist schließlich mein Beruf.
    Sie stellt das Rotweinglas auf die Betoneinfassung, viel zu hart. Ich mache mich lächerlich, denkt sie. Ich vermische die Fälle. Tim, Charlotte, Ivonne, mich selbst, Vergangenheit und Gegenwart. Ich werde wahnsinnig, wie in der Nacht auf der Insel, allein mit Charlottes Knochen. Ich sehe Gespenster. Schwarzweiße Gespenster mit glühenden Augen, die schreien wie verlorene Seelen und mich auf den Grund eines Seeslocken wollen. Mich oder Charlotte, ich weiß nicht einmal, wessen Träume das eigentlich sind. Sie fühlt die Blicke des Rechtsmediziners in ihrem Rücken, als sie zu ihrer Ente geht. Sie hebt die Hand und winkt, ohne sich umzusehen.
    Es ist beinahe dunkel, als sie vor ihrer Wohnung parkt. Sie kauft Brot, Käse, Milch und ein paar Flaschen Kölsch am Kiosk, macht kein Licht im Treppenhaus, steigt einfach Stufe für Stufe nach oben. Ich muss Berthold anrufen, denkt sie. Hören, wie es ihm geht. Ihm sagen, dass ich nicht weiterkomme, dass er damit leben muss. Aber er wird sich mit mir treffen wollen und das schaffe ich heute nicht mehr und ich will es auch nicht. Ich bin kein Ersatz für seine tote Freundin. Ich kann es nicht ändern. Es gibt eben keine Gerechtigkeit. Ich muss endlich schlafen.
    Zuerst spürt sie nur eine fremde Präsenz, wie eine Ahnung. Sie bleibt abrupt stehen, entdeckt den Schatten ein paar Stufen über ihrer Wohnungstür, kurz vor dem Zutritt aufs Dach, wo die Treppe endet.
    »Judith?«
    Davids Stimme. Mit einem
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